Pit Schultz on Tue, 7 May 96 14:56 MDT


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nettime: Every large program has a few bugs - Nils Roeller


Nils Roeller <nils@khm.uni-koeln.de>


"Every large program has a few bugs"*


Kiel liegt nicht in Bali. Auf dem Zeitungsphoto der Kieler Nachrichten ist 
der Brustansatz eines Maedchens erkennbar, das in leichter Sommerkleidung 
den Teilnehmern an einem Marathonlauf ermunternd zujubelt. Im Gedankenwerk 
des Betrachters beginnt etwas, ihre Brust zu bewegen, und Schamsaefte regen 
sich, Taenzerinnen in gelben Bluetenketten erscheinen, Urwald und Meer, 
unbemerkt von dem Pressephotographen durchzieht ein weisser Wal das Meer in 
der Naehe und fuehrt die Gedanken nach Norderney, wo Heinrich Heine 
Salzwasser mit Teegeschmack trinkt und sich von einem englischen 
Videokuenstler die Wartezeit bis zu seinem zweihundersten Geburtstag 
vertreiben laesst. Der Englaender hisst fuer Heine in unregelmaessigen 
Abstaenden den "Blauen Peter", eine Flagge aus der Vormorsezeit. Der 
britischen Admiralitaet im Kopf missfaellt das, sie steuert nach Gibraltar, 
eine Chance fuer Synapsen, naeher an Cordoba heranszukommen, das fuer einen 
Augenblick ein arabisches Sarajewo ist, da hier wie dort Buecher verbrannt 
werden. Verluste fuer Averroes und die Identitaet einer Volksgruppe, denen 
das Internet nur ein bisschen helfen kann. Die Organisationsformen der 
Arbeiterklasse misslingen da, kurzes Glueck gewaehrt eine junge Kommunistin 
aus Riga, die Benjamin in Capri trifft und wieder weiche Bilder aufruft.  
Bilder und Zeichen stehen in einem wirren Verhaeltnis.
Gibt es ein Programm, das Ordnung schafft und den Intellekt zur Ruhe kommen 
laesst? An wen kann man sich wenden, wenn man das Gefuehl hat, das ein 
Programm im Kopf wirre Assoziationen knuepft?
Das etwas geschehen muss ist klar, denn unmoeglich kann man so weiter 
schreiben, denn irgendwann muss man den Datenraum verlassen und mit anderen 
sprechen oder auch nur essen. Aber mit wem kann man sprechen, wenn man den 
ganzen Tag mit Kopfbildern und Zeichensetzungen beschaeftigt ist? 
Gibt es ein Programm, das aus dieser Enge fuehren kann? Es kann nicht 
Textverarbeitung sein oder ein anderes Anwenderprogramm, das dazu fuehrt, 
das man vor dem Computer festklebt, weil man von den Tastaturkombinationen 
verfuehrt wird. 
Ein Besuch in der Staatsbibliothek kann ebenso fatal sein und weitere 
Textmengen an den Tag bringen, die das Kopfwerk in Bewegung halten. Der Gang 
zum Lexikon ist eine Notloesung bei der Suche nach einem Programm, das die 
Assoziationenen verlangsamt und nachvollziehbar macht. Denn auch zum Wort 
"Programm" kann man delirieren und zu einem ewigen Sprachstudenten werden, 
der sich erschûpft von Stichwort zu Stichwort hangelt.  Aber dennoch:

Die "Operationen, die in einer Maschine eingerichtet werden, damit sie 
automatisch durchgefuehrt werden koennen", gelten nach dem "Oxford English 
Dictionary" als "computer program". Das Woerterbuch  verweist auf  den 
Unterschied zwischen "program" und "programm", demzufolge ein "programm" 
eine "schriftlichen Festlegung einer formalen Reihe von Vorgaengen" ist. 
Beide Worte unterscheiden sich vom  "programma", das in der Grundbedeutung 
eine ûffentliche Ankuendigung bezeichnet. Das 17. Jahrhundert trifft sich 
mit dem Elektrotechnikern des 20. Jahrhunderts. Es geht um Ordnung. Aber das 
hilft nicht. Die Stichworte bieten keinen Anlass zum Halten, sondern lassen 
die Gedanken flirren zwischen Gesetzgebung und Elektronik.
Italien bietet eine Aktzentverschiebung. Die Konsultation des "Dizionario 
della lingua Italiana" ergibt, das im Italienischen die Semantik aus dem 
Theaterbereich groesseren Raum einnimmt, auch wenn die wesentlichen 
semantischen Felder sonst in beiden Sprachen uebereinstimmen. Zum Programm 
gehoeren nicht nur die festgelegten Regeln , sondern deren Durchfuehrung. 
Das Italienische legt nahe die Durchfuehrung als theatralischen Vorgang 
aufzufassen, als etwas, das anderen sichtbar wird. Hier greift etwas. Wie 
kann man die Assoziationen vorfuehren, anderen darstellen, warum man 
Heinrich Heine mit dem "Blauen Peter" in Verbindung bringt und "Bali" mit 
den "Organisationsformen der Arbeiterklasse"?
Gibt es ein Programm, das diese Umsetzung regelt? Diese Frage versetzt in 
dumpfes Brueten. Die Einbildungskraft wird stumpf. So schnell kein "deus ex 
machina" in Sicht, der die Bildproduktion wieder zum Laufen bringt. 
Im Schaufenster einer Buchhandlung liegt Foucaults "Diskurs und "Wahrheit" 
(Berlin: 1996: Merve) aus. Der dort beschriebene "parrhesiast" des zweiten 
Jahrhunderts wird zum Entwicklungshelfer einer neuen Software. Er setzt 
Worte, die seiner Lebensfuehrung gemaess sind. Moeglich wird das nur durch 
die Selbstpruefung, was nahe legt, dass das Schreibprogramm im Koerper nur 
laeuft, wenn die Zeichen, die man setzt, gewogen und in ihrerem Verhaeltnis 
zur persoenlichen  Lebensfrom beurteilt werden. Moeglicherweise werden nach 
Abschluss der Pruefung keine Schriftzeichen produziert. Die Performance 
dieses Programms ist eine Aufforderung, am Leben zu arbeiten.

* Zitat aus: "Computerizing Mathematics: Logic and Computation". In: Herken, 
R. (ed.): The Universal Turing Machine. Berlin: Kammerer und Unverzagt, 
1988, S. 216.

# Pit Schultz, Kleine Hamburger Str. 15, 10117 Berlin, pit@contrib.de


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