escape on Sun, 6 Feb 2000 13:42:15 +0100 (CET) |
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[rohrpost] Joseph Vogl - Politische Antinomien |
http://www.contrast.org/borders/kein/hintergrund/vogl1.html Cross the border/ Kein Mensch ist illegal Politische Antinomien ===================== [Joseph Vogl ist Übersetzer der Werke von Gilles Deleuze und Felix Guattari und lehrt im Moment in Weimar Medientheorie. Im folgenden Text versucht er, ausgehend von einer Unterscheidung von "Politik" und dem "Politischen" den aktuellen Stellenwert der Frage des Asyls zu umreißen: als "Asyl des Politischen".] Politik ist die Kunst, einen politischen Körper zu erzeugen. Sie ist ein Wissen der Lage, der Einteilung und der Gliederung; sie ist ein besonderes Verfahren, den verstreuten Körpern, Reden und Dingen einen einzigen Zusammenhang, einen identifizierbaren Ort, einen Platz und eine Stelle zu verschaffen. Politik ist darum Topik und Topologie, Redeordnung und Raumordnung zugleich: einerseits die Kunst eines Diskurses, der Topoi, Gemein-Plätze, Orte des gemeinsamen Sprechens und des gemeinen Wesens erzeugt; und andererseits das Wissen von einem Raum, der sich als Ort des Gemeinsamen und als das Gemeinsame der Orte konstituiert, scheint darum vor allem etwas Sagenhaftes zu sein, in dem sich die Politik und die politische Prozedur stets wiedererkennen wollten, eine Sage, die selbst wiederum eine Sage enthält. Ich denke dabei an jene berühmte Geschichte, die wie keine andere das Wissen der Politik begleitet hat, vom heiligen Paulus bis zu Machiavelli, von den Staatstheoretikern der frühen Neuzeit bis hin zu den Sozialisten des 19. Jahrhunderts, eine Geschichte, die wie keine andere die Frage der Orte, des gemeinsamen Raums, der topischen Rede und des politischen Körpers thematisiert und zusammenbringt. Es ist eine Geschichte, in der ganz und gar erfolgreich ein politisches Gleichnis erzählt wird und die darum selbst zu einem erfolgreichen Gleichnis der Politik geworden ist. Ich meine hier jene legendäre Erzählung, die Sie alle kennen und die sich auf das Rom des Jahres 494 vor Christus datiert: Die Stadt Rom hat sich gespalten, die Plebejer sind auf den heiligen Berg, den aventinischen Hügel ausgezogen, und nach leidenschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen den zurückbleibenden Senatoren eilt Menenius Agrippa auf den Aventin, um die abtrünnige und hingelagerte Menge durch ein Gleichnis zu überzeugen und zurückzuholen, durch das berühmte Gleichnis vom Staatswesen als Körper, als effektiver und effizienter Zusammenhang von Gliedern und Bauch, als Zusammenhang der Wechselseitigkeit und des gegenseitigen Angewiesenseins. Kein Glied des Körpers, sagt der listige römische Senator, kann sich ohne die stille Arbeit des Magens bewegen, kein Bauch kann ohne die Tätigkeit der Gliedmaßen den Körper am Leben erhalten. Ich glaube nun, daß es eine Ansammlung und Verdichtung mehrerer Momente ist, die diese berühmte Legende von einem kritischen und krisenhaften Augenblick in der Geschichte Roms zu einem so dauerhaften und krisenfesten Gleichnis der Politik werden ließ. Lassen Sie mich diese Moment kurz erwähnen. Erstens: es geht hier um die Frage des Orts und der Ortlosigkeit als grundlegendes Problem der Politik - die Frage der plebejischen Sezession, einer Ortsverschiebung, die einen riskanten Atops des Staatswesen markiert, oder besser: das Staatswesen selbst entortet hat; die bloße Menge einerseits und die tagende Institution andererseits haben sich voneinander entfernt und losen eine heftige Deliberation, eine heftige Verhandlung aus. Zweitens geht es um eine Rede, die in zweifacher Weise bestimmend wird, nämlich durch ein Gleichnis, das einerseits den Tops vom politischen Körper prägt und andererseits den politischen Körper wiederherstellt, eine Rede also, die das Gemeinsame aussagt und erzeugt und damit ein Sprechen des und ein Sprechen vom Gemeinsamen ist; eine repräsentative Rede, die dort, wo sie die Stimme erhebt, ein Sprechen für alle und mit allen beansprucht. Und drittens schließlich: es wird hier ein Augenblick der Krise vorgeführt, der durch ein Auseinandertreten und durch eine Kluft zwischen Politik und der politischen Sache gekennzeichnet ist - eine Verschiebung, in der die politische Frage in der Entortung, Politik aber in der Zusammenfügung, in der Lokalisierung oder Relokalisierung besteht. Das Heraustreten der Menge aus der politischen Ordnung ist ein Herausnehmen, eine Ausnahme, die von der Politik selbst wiederum ein- und hereingenommen wird; und die Politik wäre demnach die konsequente Zurückholung und das konsequente Verorten dessen, was nicht immer auf dem Platz ist, auf den es gehört. Sie haben vielleicht bemerkt, worauf ich hier hinaus will: ich will eine grundlegende Unterscheidung zwischen dem Politischen und der Politik festhalten, eine Unterscheidung, die das Politische an Prozesse der Entortung und Ortsverschiebung knüpft, die Politik aber als Herstellung und Repräsentation der gemeinen Plätze und Orte der Gemeinsamkeit begreifen läßt. Wenn es nun ein politisches Denken und ein Denken des Politischen gibt, so scheint mir dessen neuere Geschichte auf unterschiedliche Weise von dieser elementaren Spannung geprägt, von der Spannung zwischen dem Verfahren der Politik und der politischen Sache, von der Spannung zwischen den Prozeduren der Verortung und den Prozessen der Entortung dessen, worin sich ein soziales Band herstellt. Dabei lassen sich nicht nur verschiedene Techniken und Methoden zur Lokalisierung und Festsetzung des Politischen erkennen, es scheint mir vielmehr und das ist hier meine These - daß sich das Politische, von dem sich so leichthin sprechen läßt, im Diskurs der Politik vor allem als schwer oder nicht Repräsentierbares ausdruckt, daß es sich als schwer oder nicht Verfügbares artikuliert. Oder genauer - und das ist meine eigentliche These: das Politische hat im Diskurs der Politik immer wieder auf je unterschiedliche Weise die Form einer politischen Antinomie angenommen, eine Form also, in der seine Verortung zugleich zum Ort widerstreitender Gesetze wird und gerade darin ein Insistieren des Politischen anzeigt. Lassen Sie mich diese eher abstrakt formulierte These nun an einigen Beispielen genauer erklären und erläutern. 1. Das erste Beispiel und die erste Antinomie dieser Art mochte ich Antinomie der Gründung nennen, und ich rekurriere dabei auf allzu bekannte und geradezu klassische Konzepte und Texte, die Ihnen sicher geläufig sind. Es geht hier um eine Frage, die seit dem 17. Jahrhundert so fundamental geworden ist und eine politische Theorie regelrecht begründet hat, um die Frage nach dem Anfang, dem Entstehungsort und nach dem Usprung eines dauerhaften, geordneten und funktionierenden Gemeinwesens. Ich will mich hier nicht weiter auf die notorischen Debatten um das Verhältnis zwischen Naturzustand und Gesellschaftszustand einlassen, die das politische Denken des 17. und 18. Jahrhunderts so sehr durchdrungen, geteilt und sortiert haben; es geht mir vielmehr um den Augenblick der Gründung selbst, um jenen Augenblick und Ort, auf den aufgeklärte Sozialvertragslehren den Beginn und den Zusammenhalt der politischen Ordnung zurückdatiert haben. Sie erinnern sich vielleicht, wie Thomas Hobbes in seinem Leviathan diesen herausragenden Moment des Beginns vom Staatswesen beschreibt. Es heißt dort: "Ich übergebe mein Recht, mich selbst zu beherrschen, diesem Menschen oder dieser Gesellschaft unter der Bedingung, daß du ebenfalls dein Recht über dich ihm oder ihr abtrittst." Was hier ausgesprochen ist, betrifft den Abschluß eines ersten Vertrags, der von nun an die Folie zur Repräsentation aller politischen Verhältnisse wird: Wie jedes Individuum notwendig durch ein anderes vertreten wird, so wird der Dritte, der Staat, "eines jeden einzelnen Stellvertreter", dessen Handlungen man nun so betrachten muß, als habe man sie selbst getan. Immer ist in diesem "als ob" des Vertrags oder Gesetzes der einzelne drei Personen zugleich. Er wird zum Bürger und zum politischen Subjekt nur als Stellvertreter der beiden anderen, oder umgekehrt: in jenen anderen erkennt er zuschauend und findet eine Konstellation vor, in der die Gemeinschaft als latenter Ausnahmezustand nach zwei verschiedenen Seiten ausschlagen kann: zum Speicher aller Legimitätsfragen, zur Suspension geltender Macht, zur Figur einer permanenten Revolution und idealen Form einer direkten Demokratie; und zum Modell einer plebiszitären Ermächtigung, die sich im Begriff der "Bewegung" zusammenzieht und noch etwa Carl Schmitts Option für einen autoritären Staat motiviert. Hier will ich nun zumindest folgendes festhalten: Eine Politik des Vertrags und der Repräsentation öffnet zugleich eine Kluft und ein Dazwischen, das in dieser Politik nicht repräsentiert werden kann, sondern bloß als radikale Nicht-ldentität und Verschiebung erscheint: als jener Abstand eines Volks, einer Gemeinschaft, einer Versammlung zu sich selbst, der im Akt der Gründung und des Zusammenschlusses getilgt und überbrückt werden soll und doch immer wieder nur zum Ort oder Nicht-Ort einer Un-Einheit und Heterogenität zurückführt. Wahrend eine Politik des Gesellschaftsvertrags an der Transparenz der Verhältnisse und an der Ortbestimmung der politischen Subjekte arbeitet, macht sich das Politische dieser Politik im Zerfall jenes ersten Datums und in der Auflösung und Verschiebung eines ursprünglichen Orts für diesen Zusammenschluß bemerkbar und erinnert daran, daß die Gründung nicht ein für allemal abgeschlossen ist; sie erinnert daran, daß das Gemeinsame und die Einheit der Vielen weder ursprünglich noch gegenwärtig, sondern stets verschoben, aufgeschoben und vertagt ist. Dies waren nicht nur - soviel sei hier wenigstens angemerkt - die Ausgangspunkte, von denen aus man die in sich zerfallende Logik von Gründungsurkunden analysieren konnte: sei es Derrida am Beispiel der amerikanischen Unabhängikeitserklarung; oder sei es Lyotard am Beispiel der Déclaracion von 1789. Auch die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, die die transatlantischen Feuilletons in den letzten zehn Jahren in Atem gehalten hat, scheint mir um diese politische Antinomie herum aufgebaut zu sein, um eine politische Antinomie, die kurz und schematisch gesagt in folgendem besteht: Eine Gesellschaft kann gerecht sein nur in der Auflosung naturwüchsiger Bindungen, nur im Rückgriff auf erste Einheiten und Identifikationen aber erkennt sie das Residuum ihres Zusammenhalts. Und das Politische daran wäre eben nichts anderes als das, was in der Identität eines ersten Zusammenhalts ebenso wie in der Geschlossenheit einer transparenten Repräsentation - auf welche Weise auch immer - insistiert. 2. Eine zweite politische Antinomie, die ebenso ihren historischen Ort hat und noch wirkungsvoller in unsere Gegenwart hereinreicht, mochte ich gerne Antinomie der Polizei oder Antinomie des Polizeilichen nennen. Dabei handelt es sich um folgendes. Es ist nämlich bemerkenswert, wie sich seit dem 18. Jahrhundert das, was man politischen Körper nennt, auf eigentümliche Weise verdoppelt hat. Auf der einen Seite stehen die eben angedeuteten Fragen der politischen Repräsentation: Wie lassen sich die verstreuten Individuen als politische Personen und Subjekte zu einer Ganzheit zusammenschließen? Wie läßt sich eine geregelte und verläßliche Form der Gegenseitigkeit bilden? Wie läßt sich die Legitimität einer Macht als Garantie, Sicherheit und Schutz des bürgerlichen Verkehrs begründen? Im Zentrum stünde hier also - wie bereits am Beispiel des Gesellschaftvertrags angesprochen - die Rechtsförmigkeit souveräner Gewalt, eine Frage, die aus der Wechselseitigkeit von Königsmacht und Rechtsentwicklung seit dem Mittelalter hervorgegangen ist. Es geht dabei um das Verhältnis von Einzelwillen und Gemeinwillen, um die Abmessung staatlicher Gewalt und individueller Freiheiten, um die Kodierung und Repräsentation dieser Spannungen in einem Rechtssystem. In dieser Hinsicht ist die Souveranität zu einer Kernfrage von Recht und Macht in den abendländischen Gesellschaften geworden; gleichzeitig aber maskiert, reduziert oder verdrängt dieser Gesetzesdiskurs - im Wechselspiel zwischen Legalität und Legitimität - das Faktum der Herrschaft im Innern der Macht. So laßt sich nämlich auf der anderen Seite beobachten, wie sich spätestens seit Anfang des 18. Jahrhunderts eine ganz andere Form zur Organisation und Durchdringung des sozialen und politischen Felds herausbildet. Hier geht es nicht mehr um politische Subjekte und Rechtspersonen, sondern um lebende Individuen und Bevölkerungen; nicht mehr um Rechtsverhältnisse, sondern um Leidenschaften, Interessen und Verhaltensweisen; nicht mehr um politische Repräsentation, sondern um die Steuerung von Lebensituationen, von biologischen, medizinischen, sozialen, ökonomischen oder moralischen Milieus, nicht mehr um die Lokalisierung einer politischen Gründung, sondern um das Lokal einer politischen Steuerung. Es hat sich in fast allen europäischen Staaten seit Ende des 17. Jahrhunderts ein neuer Gegenstandsbereich des Politischen herausgebildet, der ein komplexes Verhältnis von Territorien, Bevölkerungen und Gütern umfaßt und Interventionen unterhalb des Rechts und der Gesetze einschließt. Das 'Politische' ist hier nicht mehr an die Reichweite des Vertraglichen und der rechtsförmigen Repräsentation gebunden, es entwirft sich vielmehr als ein Kräftefeld, das andere Beschreibungs- und Aktionsformen politischer Macht provoziert: eine politische Ökonomie, eine Bevölkerungspolitik, eine Gesundheitspolitik, eine Biopolitik usw. Es wird damit ein besonderes Regierungswissen erzeugt, das im 18. Jahrhundert den Titel 'Policey' bekommen hat und sich als Organ einer umfassenden politischen Sorge auf die Gesamtheit des physischen und moralischen Staatslebens bezieht. Diese Policey - so lautet es in zeitgenössischen Definitionen - ist die Erkenntnis, wie ein gegebener Zustand des Gemeinwesens erhalten, gehoben und verbessert werden kann; sie verzeichnet die Mittel zur Bewahrung und Mehrung der "physischen und moralischen Kräfte" eines Landes; und sie ist schließlich die Menge der aktuellen Maßahmen, die ergriffen werden müssen, um das "gesamte Vermögen des Staates durch gute innerliche Verfassungen zu erhalten und zu vergrößern und der Republik alle innerliche Macht und Starke zu verleihen, deren sie nach ihrer Beschaffenheit nur immer fähig ist". Die Policey bezieht sich also - kurz gesagt - auf die Forderung der individuellen und allgemeinen Wohlfahrt zur Stärkung des Staats überhaupt und nimmt dabei eine minutiöse Anordnung und Verteilung von Körpern, Fähigkeiten und Qualitäten vor. - Gerade diese Verdoppelung des politischen Körpers zwischen Vertragstheorie und Policey läßt sich nun ebenfalls als eine spezifische Antinomie des Politischen begreifen, in der bloße Steuerungsregeln und Rechtssätze miteinander um die Definitionsmacht politischer Regierung konkurrieren, einander ausschließen, überschneiden, verzahnen oder wechselseitig verstärken. Das Netz ökonomischer und polizeilicher Regierungstechniken einerseits und das Gesetz der Souveranität andererseits sind von nun an die beiden äußeren Grenzen der Macht und begründen das "Wohlfahrtsstaat-Problem" moderner Gesellschaften - wie Michel Foucault das einmal genannt hat -, ein Problem, das eine feine Abstimmung zwischen der auf Rechtssubjekte ausgeübten politischen Macht und der auf lebendige Individuen bezogenen Disziplinarmacht verlangt: Die Grenze der polizeilichen Regulierung liegt im Recht, dessen Geltung selbst wiederum mit dem Appell an feinere Kontrollmechanismen begrenzt wird. Man konnte also sagen: Die politische Vernunft und das Politische sind hier in einen Engpaß, in eine Falle zwischen Normen und Disziplinen einerseits und Gesetzesmacht andererseits geraten; es haben sich unterschiedliche Formen der Ordnung und Ortung des Politischen ergeben, die sich hier zu einer Art ausweglosen Zusammenarbeit verbunden haben. So sehr einander die Sätze des Rechts und die Festsetzungen der Polizei auszuschließen scheinen, so sehr bestimmen sie eine Politik, die hier eine wechselseitige Einweisung des Politischen vollzieht. Michel Foucault - dies sei hier wenigstens angedeutet - hat das nicht zuletzt als Schwierigkeit beschrieben, das Politische noch in Begriffen der Emanzipation und Befreiung denken zu können. Etwa am Beispiel der Sexualität: diese ist aus einem 'policeylichen' Kontroll- und Disziplinarwissen vom Anfang des 19. Jahrhunderts hervorgegangen, und jede Berufung auf die Sexualität gegen die Schranken des Gesetzes lauft Gefahr, die Effekte jenes Disziplinarwissens zu starken. Oder umgekehrt: So mag es etwa, schreibt Foucault, die "politische Ehre der Psychoanalyse" ausmachen, daß sie der Expansion der Bio-Macht, der alltäglichen Verwaltung und Kontrolle der Sexualität entgegenstand und sich noch in "theoretischer und praktischer Gegnerschaft zum Faschismus" befand, und zwar gerade dadurch, daß sie Gesetz und Souveränität von neuem ins Spiel brachte und die Sexualität unter die symbolische Ordnung, den Vater-Souverän, zurückholte. In diesem Ausgreifen auf Geschichtslosigkeit aber bleibt sie zugleich in ihrer eigenen Geschichte gefangen, in der Normierungsmacht der Sexualität, deren Wahrheit - die Wahrheit der auf ihren Sex verpflichteten Individuen - sie nur wiederholen kann. Und das fuhrt schließlich zu den Fragen: Weist nicht dieses moderne Zusammenspiel zwischen juridischer Idealität und Normierungsmacht auf die Unmöglichkeit, sich auf die eine Seite gegen die andere zu berufen? Und mußte man nicht in Richtung eines Politischen denken, das anti-polizeilich und zugleich losgelöst von den Garantien des Rechts und der Souveränität wäre? Lassen Sie mich noch einmal wiederholen. Ich bin - am Beispiel der römischen Sage vom Auszug der Plebejer und der Überzeugungskraft des Menenius Agrippa, der das ortlos gewordene Volk zurückholt - ich bin also hier von der Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen ausgegangen, während das Politische eine grundlegende Entortung und einen riskanten Augenblick des staatlichen Wesen bedeutet, stellt die Politik als Topik und Topologie den politischen Körper wiederum her: durch Gliederung, Verortung und Platzanweisung. Diese Differenzierung führte mich zur These, daß seit dem Beginn einer neuzeitlichen Politik und einer politischen Theorie das sogenannte Politische stets vom Verschwinden bedroht ist und insbesondere als Antinomie, als Widerstreit von Gesetzen insistiert. Sei es in der Gründungsszene und im Urvertrag als Quelle von Legitimität, der einen nicht-repräsentierbaren Abstand des Volks zu sich selbst enthält; sei es in der Policey als feinmechanische Regierungstechnik, die einen kontinuierlichen Wechselverweis zwischen Rechtsordnung und Kontrollpraxis provoziert - in beiden Fallen vollzieht sich Politik als beständiges Vergessen jenes Politischen, das zu jeder Figur des politischen Körpers den Anspruch seiner Defiguration und zu jeder politischen Ortung ein Ausstreichen dieses Orts hinzufügen wurde. Die Liste der Fragen ließe sich sicher verlängern: Wie steht es etwa mit einer Politik, wenn man das Politische im Raum der Öffentlichkeit (wie Habermas) oder in der Dezision der Feindschaft (wie Carl Schmitt) lokalisiert? Und wie steht es um die vielleicht aktuellste politische Antinomie, die zwischen den selbstregulierenden Prozessen einer globalen Ökonomie und der festen Fügung der Nationalstaaten zu bestehen scheint, eine Antinomie, die den großen Beitrag eben dieser Nationalstaaten zur weltweiten Zirkulation des Kapitals vergessen macht? Ich will diese Fragen allerdings beiseite lassen und nun zum Schluß das Problem noch einmal etwas anders stellen. Ist es wirklich gerechtfertigt, heute vom Verschwinden des Politischen zu sprechen? Gäbe es für das Verschwinden des Politischen heute einen exemplarischen und privilegierten Schauplatz? Oder anders herum: Gibt es einen Schauplatz, der gerade erst durch die Freisetzung des Politischen, der politischen Frage seine höchste Sichtbarkeit und Schärfe erhalten würde? der die Politik als Annullierung des Politischen sichtbar machen konnte? Wo also vollzieht die Politik eine Delegierung, eine Einweisung und Gefangennahme des Politischen, in der dessen Insistieren noch spürbar wäre? Und wo läßt sich in der Politik der Gegenwart dieses Asyl des Politischen erkennen? Ich habe Ihnen hiermit meine Antwort bereits souffliert und nehme sie vorweg: Ein exemplarischer Ort der Gefangenschaft des Politischen, ein exemplarisches Asyl des Politischen scheint mir heute vor allem im Ort des politischen Asyls selbst zu liegen. Lassen sie mich nun, bevor ich eine Erklärung dieser Antwort versuche, einige Bemerkungen zum Begriff des Asyls und zu seiner Geschichte machen. 1. "Asyl" heißt im Lateinischen "asylum", im Griechischen "asylon" und war dort, im alten Griechisch, von seinem Gegenbegriff abgeleitet: nämlich "sylon", d.h. Raub, Beraubung, Plünderung. "Asylos" bedeutet dementsprechend das Gegenteil von Beraubtsein, und das heißt: unberaubt, sicher, unverletzt und unverletzlich zu sein. Und entsprechend ist "Asylon" eine Freistatt und Zufluchtstätte - ein Ort also, der im heutigen Asyl natürlich noch mitklingt, in der Antike aber eine ganz besondere politische, rechtliche und soziale Prägung erfahren hatte. Denn Asylon war in der griechischen Antike nicht nur jedes Heiligtum einschließlich seines Zubehörs an Altaren, Götterbildern und Kostbarkeiten; es waren dort nicht nur - zum Schutz gegen Feinde - Staatsschätze und Vermögenswerte untergebracht; es konnte darum nicht nur zum Zufluchtsort für Verfolgte und Bedrängte, sogar für Sklaven und Verbrecher werden; es war nicht nur ein Ort der prinzipiellen Unantastbarkeit. Es galt vielmehr umgekehrt, daß jeder, der diesen Ort der Unantastbarkeit verletzte - und sei es, daß man einen Verbrecher zur Bestrafung von dort hervorholte - sich selbst antastbar machte und einen Frevel beging, den die Gesetze, zumindest aber die Götter hart bestraften. Man konnte in diesem Asyl also das erkennen, was man heute einen rechtsfreien Raum nennt; aber es war in Wirklichkeit noch sehr viel mehr. Es war vor allem ein Ort der Aussetzung und Annullierung des Rechts; es war darum ein Raum, in dem es prinzipiell keinen Mißbrauch gab und in dem Gerechte und Ungerechte gleichermaßen Aufenthalt fanden; es war ein Ort, an dem man nicht durch das Gesetz, sondern bestenfalls per Gesetz vor den Gesetz geschützt war; und das Asyl war demnach ein Aufenthalt, an dem sich nicht einfach verschiedene Sozialarten, Bürger, Unfreie, Kriminelle und Verfolgte versammelten, es war vielmehr ein Ort, an dem zunächst alle diese Markierungen aufgehoben waren, ein Ort der Demarkierung und Demarkation also, ein Ort der Abtrennung, eine Ortschaft, die nichts mit anderen Orten gemeinsam hat. So konnte man sich in späterer Zeit darüber beklagen, daß diese Asylstätten zu Sammelplätzen von "liederlichem Gesindel", meuternden Sklaven und insolventen Schuldnern etwa geworden waren - wesentlich aber scheint mir hier vor allem folgendes zu sein: was sich im Asyl versammelte, war kein Volk, es waren keine durch Stand oder Gesetz markierte Individuen, sondern eine Art deterritorialisierter Menge und Masse. Folgende Merkmale dieses antiken Asyls wurde ich hier also gerne festhalten: Erstens ist es ein Ort, an dem man nicht belangt werden kann, es ist ein Ort ohne Belang und in dieser Hinsicht, was seine Lage in der Polis und in der Politik der Polis betrifft, ein Atopos, ein Nicht-Ort, ein Ort der Nicht-Zugehörigkeit: man befindet sich hier, weil man dort, wo man ist, nicht hingehört; es enthält zweitens nicht eine wie auch immer geordnete Versammlung von Bürgern oder Verbrechern, sondern eine unmarkierte Ansammlung von Leuten, einen plethos der sich stets außerhalb des demos d.h. eines zur und für die Politik zugänglichen Volks befindet; und das Asyl ist darum drittens nicht zuletzt eine bedrohliche Grenze der Politik, des Rechts und der Institutionen - nicht von ungefähr bemühte man sich schon bald um rechtliche Garantien, Definitionen und Beschränkungen für die Asylstätten. Dabei ist es nicht zu übersehen, daß es gerade von diesem Nicht-Ort aus durchaus Übergänge - wenn nicht sogar entscheidende Übergänge - zum Gemeinwesen gab. Dies zumindest läßt sich wiederum an einer Sage erkennen, an einer anderen römischen Sage, die durchaus eine gewisse Nähe zur Sage des Menenius Agrippa besitzt. Es handelt sich hier um die Sage von der Entstehung Roms. Denn nachdem Romulus den Remus erschlagen hatte und zur Gründung der Stadt geschritten war, öffnet er auf dem Kapitol wiederum ein heiliger Berg - ein Asyl für Vertriebene und Verfolgte, Heimatlose und Landflüchtige, aus denen dann das römische Volk entstehen sollte. Nun erscheint es bemerkenswert, daß man sich nicht nur immer wieder auf das bloß Sagenhafte dieser Geschichte berief, sondern daß man in dieser Erzählung auch einen signifikanten Widerstreit erkennen wollte: Konnte es möglich sein, daß am Anfang des großen Roms und am Anfang seines Rechts und seiner Institutionen ein gesetzloser Ort und Ort der Gesetzlosen bestand? Konnte es möglich sein, daß die römische Staatsgründung nicht auf einen geordneten Verband, sondern auf "zusammengelaufenes Gesindel", wie es bei Livius heißt, zurückging? Konnte es möglich sein, daß mit allen Unterschieden, die die Gründung, die Politik, das Recht und der Staat machen, eine Unterschiedlosigkeit einherging, ein "sine discrimine", wie es ebenfalls bei Livius heißt? Es scheint jedenfalls, als ginge es in den verschiedensten Interpretationen dieser Gründungsgeschichte immer wieder um das bereits benannte Problem: Wie verhalt sich eine Politik der Gründung, der Ortung und Ordnung zu einem Politischen, das hier ebenso wie in der Erzählung von Menenius Agrippa mit der Undiskriminiertheit und Ortlosigkeit einer bloßen und deterritorialisierten Menge verbunden ist? 2. Gerade seit dem 19. Jahrhundert scheint man das Politische dieses Asyls als einen gewissen Vorwurf und Skandal begriffen zu haben. So sehr nämlich dieses Asyl eine Grenze der Politik markiert hat und die Spannung zwischen ungeordneter Masse und geordnetem Volk, zwischen Verortung und Entortung umschließt, so sehr galt es nun als abgemacht, daß diese Gestalt des Asyls als Unort, als Ansammlung von unterschiedslos Gleichen und als Annullierung des Gesetzes in einer fundamentalen Feindschaft zum eingerichteten Staatswesen stehen muß. Und spätestens seit dem 19. Jahrhundert läßt sich demnach ein doppeltes Verschwinden des Asyls konstatieren. Denn einerseits haben nun staatliche Macht und Rechtsstaat einen Raum erzeugt, der keinen undiskriminierten Ort mehr kennt und konzediert, Staat und Recht haben gewissermaßen die Sache und den Begriff des Asyls absorbiert und kassiert. Ich zitiere aus einer Studie zur Geschichte des Asylrechts von 1853: "Der Staat hat nach Gelangung zur Kraft, durch die er dem Unglücklichen Schutz, und dem Verletzer Strafe nach der Ordnung seiner Gesetze angedeihen läßt, die Macht des Asylrechts gebrochen. Er selbst ist jetzt das Asyl, aber nicht der willkürlich, sondern der, nach feststehenden Gesetzen gehandhabten, Ausübung des Rechts. In seinem Asyl wird das Recht geübt und der Mißbrauch des Rechts geahndet." Das ist die eine Seite: die Ersetzung des Unorts des Asyls durch den lückenlosen Geltungsraum des Gesetzes. Die andere Seite - und das ist eine ebenso wesentliche Veränderung - betrifft den Begriff des Asyls selbst: Er bedeutet jetzt, seit spätestens Anfang des 19. Jahrhunderts, nicht mehr allein Zufluchtsstätte, sondern ist nun überdies zum Namen für einen Ort der Einsperrung geworden - das Asyl als Heim, als Unterkunft für Bedürftige, als Irrenanstalt und Ort der Disziplinierung. Vom Ort oder Nicht-Ort der Unterschiedslosigkeit, der einst das Gesetz anhalten ließ, ist also das Asyl hier zu einem exemplarischen Ort der Diskriminierung geworden, in dem zwar nicht unbedingt das Gesetz, aber eine polizeiliche Sorge waltet. 3. Diese beiden Seiten gehören zusammen und lassen sich als eine Reduktion begründeter Ortlosigkeit begreifen: einerseits mit dem Überschreiben undiskriminierter Leestellen durch die diskriminierende Schrift des Rechts; andererseits durch eine Umwandlung von Zufluchtsstätten und Enklaven, die nun zu Orten der Einsperrung, Verwaltung und disziplinären Durchdringung geworden sind. Es ist also nur konsequent, wenn auch im 20. Jahrhundert und insbesondere nach 1945 das Asyl und das Asylrecht nicht nur als prinzipiell rechtsfeindlich angesprochen, sondern zudem in eine Vorvergangenheit moderner Staaten zurückverlegt werden. "Die Bedeutung des Asylrechts", heißt es etwa in einer Studie von 1954, "liegt in einer Zeit unentwickelter Rechtsverhaltnisse." Und in einer anderen Darstellung: "Der Rechtsstaat kann keine exemten, seinem Zugriff entzogenen Bereiche dulden." Umso bemerkenswerter mochte die bündige Formulierung von Artikel 16, Satz 2 aus dem Grundgesetz erscheinen, die Sie alle kennen und die seit zwanzig Jahren Gegenstand der Auseinandersetzung ist: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Bemerkenswert ist diese Satz nicht nur, weil er weder in der Weimarer Verfassung noch in der Verfassung des Kaiserreichs ein Gegenstück hatte; bemerkenswert ist er nicht nur, weil er den Text des Grundgesetzes zugleich als Resultat und Ort einer historischen Erfahrung der Verfolgung kennzeichnet. Es ist vielmehr mit diesem Satz an eminenter Stelle der Term 'Politisch' eingeführt, der ganz konsequent einen Unort des Politischen im befriedeten Ort des Gesetzes geöffnet hat. Ich will hier nicht weiter auf die umfangreichen juristischen und politischen Debatten um dieses Grundrecht auf Asyl eingehen, sondern zumindest folgendes festhalten: Die Änderungen, die mit Geltung vom 1. Juli 1993 in den Artikel 16 des Grundgesetzes eingeführt wurden, scheinen mir nicht zuletzt von einer Logik geprägt zu sein, die eine doppelte Auslöschung dieses 'Politischen' betreibt: einerseits wird nun, mit der sogenannten Drittstaatenregelung, die. Entscheidung über das 'Politische' im Begriff der politischen Verfolgung aus dem Territorium und Geltungsbereich des Grundgesetzes herausgehoben und gewissermaßen aus seinem Inneren weggeschafft; und das Politische und die politische Verfolgung werden nun einem Beglaubigungsverfahren unterworfen, dessen Kriterien gesetzlich definiert und verortet sind: "Durch Gesetz", heißt es hier, "können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet." Andererseits und im selben Zug wird damit der verwaltungstechnische und polizeiliche Weg gestärkt, eine Stärkung, die zu den bekannten Formen der Asylierung geführt hat: Gemeinschaftsunterkünfte, Flughafenregelung, Abschiebehaft. Kann man tatsächlich den indefiniten Begriff der 'politischen Verfolgung' im Artikel 16 der Verfassung als ein Insistieren des Politischen im Geltungsraum des Gesetzes begreifen, so hat mit der Verfassungsänderung schließlich eine Politik gesiegt, die erfolgreich den Widerstreit des Politischen in einen Konflikt zwischen Gesetz und Verwaltungspraxis, Gericht und Polizei verwandelt hat. Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Ich habe versucht, eine grundlegende Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen zu benennen: die Politik als Praxis der Aufteilung, Distribution und Verortung, als Zuweisung von Zuständigkeiten; das Politische aber als fundamentale Ortverschiebung und Entortung, als Erzeugung von Räumen der Nicht-Zugehörigkeit und Nicht-Zuständigkeit. Aus dieser Perspektive bin ich schließlich auf die Frage des Asyls gekommen, auf ein Asyl, dessen Geschichte auf jenen exempten Ort zurückführt, der die Frage nach der Grenze des Gesetzes, des Rechts, der Verwaltung aufwirft und somit von einem Insistieren der politischen Frage zeugt. Entsprechend wollte ich mit dem prinzipiellen Verschwinden des Asyls in modernen Staats- und Rechtssystemen auch ein Verschwinden des Politischen erkennen. Aus diesem Grund schien mir die Asylgarantie des Grundgesetzes ein paradoxes und darum nur umso wichtigeres Datum zu sein: als Öffnung eines Atopos im Innern der Topologie des Gesetzes. Und auch aus diesem Grund schien mir die Politik, die zur Verfassungsänderung geführt hat, so ruinös zu sein: als eine Politik, die die Frage des politischen Asyls zu einem Asyl des Politischen gewendet hat, zu einer Asylierung, die die offene Frage nach Ort und Zugehörigkeit zum Schweigen bringt an das Wechselverhältnis von Recht und Polizei delegiert. "Die politische Aktivität", schrieb der französische Philosoph Jacques Ranciére, "trennt einen Körper von dem Platz, der ihm zugewiesen war, oder ändert die Bestimmung eines Ortes; sie läßt sehen, was keinen Ort hatte, an dem es gesehen werden konnte, läßt etwas als Rede hören, was vorher lediglich als Geräusch zu hören war.'' Jedenfalls möchte man nicht aufhören zu glauben, daß dieses Politische weiterhin insistiert, und daß es gerade mit Berufung auf den Nicht-Ort des Asyls auch weiterhin irgendeinen Sinn machen konnte, dort zu sein, wo man nicht hingehört, und dort zu reden, wo man nicht gefragt wird. -------------------------------------------------- # rohrpost -- http://www.mikro.org/rohrpost # unabhaengige deutschsprachige Mailingliste fuer Medien- und Netzkultur # kommerzielle Verwertung nur mit Erlaubnis der AutorInnen # Info: majordomo@mikrolisten.de; msg: info rohrpost # Entsubstkribieren: majordomo@mikrolisten.de # msg: unsubscribe rohrpost ihre@adres.se # Kontakt: owner-rohrpost@mikrolisten.de