Reinhold Grether on Tue, 22 Feb 2000 00:48:04 +0100 (CET) |
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[rohrpost] Li(e)ber Frank |
--------------------------------------------------------- Rohrpostrezension von: Frank Hartmann, Medienphilosophie, Wien: WUV 2000 DM 39.80 --------------------------------------------------------- Frank Hartmann ist einem groesseren Publikum durch seine 1996 bei Passagen veroeffentlichte "Cyber.Philosophy" bekannt geworden. Auffaellig war darin die Wiederentdeckung der Wiener Bildstatistik (spaeter ISOTYPE) Otto Neuraths, der sein utopisches Potential in die Typisierung einer klassen- und voelkeruebergreifenden reinen Bildersprache investierte. Die Bildzeichen der Personenleitsysteme, wie wir sie von Flughaefen kennen, gehen u.a. auf Neurath zurueck. Hatte Wien mit der Ringstrasse der realisierten Utopie des 20. Jahrhunderts, dem Verkehr, ein unuebersehbares Wahrzeichen gesetzt, brauchte es einen weiteren Wiener, der die Strassenschilder aufstellte, damit man mehr als nur "im Kreis herumfahren" (Lauda) konnte. Neurath ist fuer Hartmann, typologisch gesprochen, der Typus, der, wie Johannes der Taeufer, auf den ihn ueberbietenden Antitypus Flusser verweist, der die "Blase" (Sloterdijk) des neuzeitlichen epistemischen Raums unwiderruflich platzen liess. Als einer der ersten deutsch schreibenden Wissenschaftler besass und, wichtig, pflegte Frank Hartmann eine Homepage http://mailbox.univie.ac.at/Frank.Hartmann/index.htm auf der die Linkseite http://mailbox.univie.ac.at/Frank.Hartmann/Links/index.htm und die Online-Essays http://mailbox.univie.ac.at/Frank.Hartmann/Essays/index.htm einen guten Ueberblick ueber das Interessensspektrum des Autors bieten. Man erfaehrt weiter, dass Hartmann "Philosophische Grundlagen kommunikationswissen- schaftlicher Theorienbildung" am Wiener Publizistik-Institut lehrt, und ein Vergleich der Vorlesungsseite http://mailbox.univie.ac.at/Frank.Hartmann/Vorlesung/Inhalt.htm mit der Medienphilosophie-Seite http://www.pettauer.net/testarea/phrank/ zeigt, dass Frank Hartmanns juengstes Buch "Medien- philosophie" auf diese Vorlesungen zurueckgeht. Wer diesen Links folgt, kann auf der buchbegleitenden Homepage die Kapitel-Zusammenfassungen nachlesen und sich so ein Bild des Buchs verschaffen. Das Buch ist in der relaunchten UTB-Reihe erschienen. UTB, das waren dichte Textbloecke zwischen knallroten Abwaschdeckeln. Auf letztere muss man im vergroesserten Format nicht verzichten, ins Innere sind eine verbesserte Textnavigation, eine zweispaltige Fussnotenleiste, Mehrschriftigkeit und eine gefaellige Abbildungsintegration eingezogen. Das bedeutet nun aber nicht - und das gilt fuer Form wie Inhalt des Buchs - dass man es hier mit einer Antwort des Buchs auf die Herausforderung des Netzes - gewissermassen einer Gegentypologisierung des Antitypus Internet - zu tun bekaeme. Buchform wie Buchinhalt reagieren nicht aufs Netz der neunziger, sondern auf die Text-Bild-Debatte der achtziger Jahre. Wer wissen will, wie das Buch nach dem Netz aussehen koennte, muss zu Artur P. Schmidts "Wissensnavigator" (DVA 1999) http://wissensnavigator.europop.net/frameset.htm greifen, ein veritabler Buch-Browser, der den Kopf auf nicht-lineare Weise mit den Wissensgegenstaenden unserer Zeit verbindet. Hartmann legt eine Achse durch den neuzeitlichen epistemischen Raum, auf der die Perlen seiner Analyse eine Erfolgsgeschichte unaufhaltsamer Multimedialisierung glaubhaft machen. Reagiert Descartes, mit dem das zu Flusser fuehrende Buch einsetzt, auf die europaeischen Religionskriege mit der Konstruktion eines friedenstiftenden rein denkenden Gegenstandes - friedenstiftend, weil fuer alle gleich -, so haengt die Konstruktion und mit ihr die Kriegsvermeidung am seidenen Faden der Publizistik, die eine nonmediale 1:1-Uebersetzung von bereinigter Subjektivitaet in beliebige Sprachformen zu leisten haette. Man braeuchte gewissermassen einen Abdruck des Unbezweifelbaren, und Hartmann zeigt sehr schoen, wie die real existierende Technologie des Buchdrucks mit diesem Anspruch belegt wird und trotz ihres Vermoegens zu identischer Reproduktion daran scheitert. Wie schon die Publizistik der Offenbarung, so fuehrt auch die Publizistik der Vernunft den Buergerkrieg deshalb wieder ein, weil Dornbusch und Selbstzweifel nicht rein, sondern nur in kulturellen Versionen und medialen Brechungen mitgeteilt werden koennen. Was den Buergerkrieg, in der subkutanen Relektuere Hartmanns, jedoch verzoegern und vielleicht fuer immer verschieben koennte, waere, um es netzig zu sagen, mehr Bandbreite, also die Wiedereinfuehrung jener Elemente der Faszination des Ereignisses bzw. der Klarheit, die im Druck nicht erscheinen und in der fortschreitenden Multimedialisierung publizistisch gewissermassen nachgereicht werden. Wer die Triumphgeschichte des Wiedereinzugs des Medialen in den europaeischen Denkraum entlang der Geistesriesen Descartes, Kant, Herder, Humboldt, Hamann, Peirce, Frege, Neurath, Husserl, Heidegger - Warburg und Cassirer fehlen -, Benjamin, Anders, Innis, McLuhan und Flusser nachvollziehen will, erhaelt mit Hartmanns "Medienphilosophie" einen aufschlussreichen, eigenwilligen und gut lesbaren Leitfaden. Bekanntlich linearisiert niemand mehr als der emphatische Entlinearisierer. Flusser war auf diesem Gebiet geradezu der Blinde unter den Einaeugigen. Die gesamte Mediengeschichte konnte er glaubhaft auf ein knappes Ablaufschema verkuerzen. Sein Buch "Die Schrift" stellte er am 5. 2. 1987 in meinem Seminar "Neuerscheinungen im Spannungsfeld Bild-Schrift-Text" einem ueberwaeltigten Publikum vor. Es war das erste deutschsprachige Buch, das gleichzeitig in Buch- und Diskettenform erschien. Den Endlosausdruck hatte ich in Einzelblaetter zerlegt und jedem Besucher der oeffentlichen Veranstaltung ein anderes Blatt in die siebenseitige Tischvorlage eingeheftet. Eingeladen wurde mit Fotoabzuegen des vom Monitor abfotografierten Bildschirmtextes. Flussers Botschaft war die Delinearisierung, die er in der Ueberstrenge seines Geschichtslinearismus kommunizieren musste. Wer die Botschaft "annahm", konnte die Leiter wegwerfen. Ein nachflussersches leiterloses Nach-Buch hat Hartmann nicht geschrieben. Er bleibt es uns schuldig. Reinhold Grether _____ Die Weltrevolution nach Flusser http://www.snafu.de/~klinger/flusser/ ---------------------------------------------------------- # rohrpost -- deutschsprachige Mailingliste fuer Medien- und Netzkultur # Info: majordomo@mikrolisten.de; msg: info rohrpost # kommerzielle Verwertung nur mit Erlaubnis der AutorInnen # Entsubskribieren: majordomo@mikrolisten.de, msg: unsubscribe rohrpost # Kontakt: owner-rohrpost@mikrolisten.de -- http://www.mikro.org/rohrpost