Ralf Knüfer on 7 Aug 2000 18:45:27 -0000


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Die License zur Nullposition

http://www.taz.de/tpl/2000/08/07.fr/ibox?Ueber=&re=ku&name=a0103

 Goldene Zeiten für Literatur (XIII): Deutsche
Schriftsteller produzieren wieder eine Ironie, die auf einer
 Normalität ruht, für die sich keiner mehr schämt

   Abfall für alle? Die neue deutsche Literatur: Schnell
geschrieben? Schnell gelesen? Schnell weggeworfen? Eine
 Artikelreihe über Popliteraten, Jungschriftsteller,
Markterfolge und die Folgen

                           von DIEDRICH DIEDERICHSEN

 Um nicht über zu viele ver- schiedene Fragen zu reden, nur
eine Sorte Pop-Literatur: von Kracht bis  Naters, von von
Lange bis zu von Stuckrad-Barre, von www.ampool.de bis 
zur Tristesse Royale. Die Bewohner dieser Welt bilden 
das kompakteste neue Phänomen. Ihre Texte sind leicht 
konsumierbar, aber dennoch distinktiv genug, um ein 
spezifisches, stilistisch hellhöriges und empfindliches, 
nämlich jungerwachsenes Publikum anzusprechen, das 
falsche Töne leichter erkennt als falsche Positionen. 
Dieses Publikum wird weniger zur gemeinsamen Reflexion
gewonnen als für fast euphorische Zustimmung mobilisiert,
erneut nicht unbedingt zu den Positionen, wie sie sich 
aus den ranzigen Feindbildern bei Kracht und Stuckrad-Barre 
ex negativo ableiten lassen, sondern zum Ton. Was man den 
zahlreichen Leserrezensionen etwa bei Amazon entnehmen
kann.

 Es ist eine in hohem Maße konventionelle und gleichzeitig
technisch sehr gut gemachte Literatur. Sie verlässt die 
Welt der Kenntnisse und Vorstellungen ihrer Leser nie, 
sie blendet keine Fremdheiten und fremdartigen Perspektiven 
ein. Sie erzählt und verlässt die Wege der Erzählung nur 
insofern, als aus anderen Medien gewohnte Formen dies
ästhetisch genügend
vorbereitet haben. Gleichzeitig ist sie bemüht, 
Zeitgenossenschaft vor allem durch Benennung der 
zeitgenössischen Phänomene zu belegen, nicht durch ihre 
Beschreibung. Beschrieben werden eher das innere und äußere 
Leben der Protagonisten, und auch diese sind meist
konventionell:
heterosexuell, weiß, deutsch und auch sonst ganz
 normal. Aber sehr zeitgenössisch.

          Die Schönheit des Aktuellen

 Aus dem Konventionellen und Standardisierten steigt durch
Überschreiten einer historischen Schwelle
 etwas Neues empor. Die biografisch neuen, die jungen Leute,
verständigen sich im Modus ihres subjektiven 
Neuheitserlebnisses über das objektiv Neue, den historischen 
Moment. Leider vergessen so geprägte Künstler zu oft das 
historische Gewordensein solcher Momente und blicken
dauerhaft verliebt
 auf nur die geschichtsabgewandte Seite der Phänomene.
Jedenfalls bringt solche Neuigkeit, wenn sie auf ein großes 
neues Publikum trifft, einen bestimmten Wahrheitseffekt 
hervor. Die Schönheit des Aktuellen. Wenn viele junge
Menschen 
etwas im gleichen Moment für enorm treffend und evident 
halten, wird dies wirklich irgendwie wahr. Dieser Effekt 
ähnelt in der Tat dem des Pop-Songs in seinem goldenen
 Zeitalter: in den Jahren 57 bis 69. Ein Wahrheitseffekt
entsteht durch die Gleichzeitigkeit neuer Stimmen
 und eines neuen Publikums in einem ansonsten
konventionellen Rahmen. Ein Ton erhebt sich und summt.
 Dagegen hilft auch keine Schnöselkritik. Es sei denn eine,
die den Schnöseln Langweiligkeit nachweist -
 nicht mangelnde Kritikfähigkeit.

 Deswegen ist es aber noch lange nicht so, wie es Georg M.
Oswald sieht, der Kritik für nicht mehr möglich hält, weil 
auch der Vorstandsvorsitzende Adorno zitiert. Erstens 
spreche das ja von seinem konformistischen Weltbild aus 
für die Produktivität von Kritik, zweitens weiß auch die 
Kritik schon einige Jahrzehnte, dass sie nicht von einem 
absoluten Außen kommen kann, wie Oswald unterstellt, dass
 sie es glaubt: Sie ist aber so lange möglich und nötig, wie
es ein Außen der stickig-zugeschnürten Oswald-Welt von zum 
Erfolg verdammten E-Börsianern noch gibt. Affirmation,
Oswalds brandneue
 Alternative zu alternativem Losertum, ist dann ja wiederum
nur so lange interessant, wie man auch nicht affirmieren, 
nämlich kritisieren könnte. Da, wo - seiner Logik folgend - 
nur noch Affirmation möglich wäre, wäre sie auch das Ödeste. 
Ist sie aufgrund ihrer allgemeinen Dominanz sowieso.

 Gerrit Bartels spitzt das Pop-mäßige an den von ihm
verteidigten Literaten definitorisch auf die zentrale
 These zu, Pop sei das Setzen von Unterschieden. Rainald
Goetz würde ihm da wahrscheinlich ins Gesicht springen. Er
meint 
ja immer, die Unterschiede seien doch schon da, jeder sei
doch 
schon so vielfach geschieden von seinen Mitmenschen, dass es 
um das Setzen von Gemeinsamkeiten gehe. Mein dialektischer 
Vorschlag zur Güte wäre der, dass das Setzen von 
Differenzen für eine Gruppe gegen alle anderen, die 
Ermöglichung eines nicht zu aufdringlichen Wir
genau mit dem Wahrheitseffekt von Pop zusammenhängt. 
Es gibt ja logischerweise keine Gemeinschaft und keine 
Gemeinsamkeit, die nicht von einem Unterschied zu etwas 
oder jemand anderem geprägt ist.

Diese Unterschiede sind schon seit langem in der Krise.
Mark Terkessidis hat wiederholt darauf verwiesen, dass sie 
die Konstitution der alten politischen Gemeinschaften der 
Arbeiterorganisationen, der Parteien und der Bewegungen 
ersetzen mussten, die bodenlos geworden waren. Ihr 
Ersatzprogramm im kulturellen Bereich hatte immer 
schon die Wahl, entweder die alten, politischen 
Unterscheidungen auf neue, kulturelle abzubilden und 
dazwischen Verbindungen zu schaffen oder zu kappen - 
und nur den moralisch-politischen Beigeschmack in der 
Form des Setzens von Differenzen aufrechtzuerhalten und als
Legitimitätsressource auszubeuten.

 Zeitgenössische Differenzen können zwar immer noch dem
Entrinnen aus einem (kulturellen) Zwangsverhältnis dienen. 
Sie können, statt politische Bündnisse zu ersetzen, die 
nächsten zu setzenden entwerfen. Meist erschöpfen sie sich 
in kraftvollen, aber zunehmend leeren
Geschmacksunterschieden,
die sich darauf berufen können, dass in der jüngeren
Vergangenheit 
der bürgerlichen Distinktion, in den goldenen Zeiten des
Pop, 
das Prinzip des kraftvollen Setzens für die Politizität von
 Geschmacksdifferenzen einstand. Die von Bartels
geschilderte Aktion von Stuckrad-Barre und Kracht
 gegen Stefan Raab ist so ein Fall, der sozusagen auf der
Höhe des Problems spielt. 

 Natürlich gibt es kaum einen schweren, benennbaren
weltanschaulichen, politischen Dissens dieser Autoren mit 
Raab. Dennoch muss, um die Währung der Coolness, mit der 
sie spekulieren, nicht ins Bodenlose stürzen zu lassen, 
eine dramatische Differenz zu Raab inszeniert werden. Solche 
dramatischen und dann wieder ins Selbstironische kippenden
Differenzen
um nichts sind das Material, aus dem sich Individualität, 
zumal neue, junge Individualität heute generiert. Im gut 
Gemachten, in der enormen Professionalität, ist man sich 
sehr ähnlich, nur mit einer großen Geste kann man sich 
wenigstens symbolisch noch ein bisschen unterscheiden. 
Ähnlich ist das Bekenntnis zu bewerten, Ironie sei vorbei.
Der Verdacht nämlich, nichts als Ironie zu produzieren, war
zu massiv geworden. Aber es ist keine andere Haltung an 
ihre Stelle getreten.

Solch Setzen von starken stilistischen Unterschieden hat
immer weniger Korrelate und Bezugspunkte außerhalb des
Stils. 
Damit überantwortet es sich der ohnehin obwaltenden 
gesellschaftlichen Gravitation. Unterschiede ohne näher 
markierte Inhalte erweisen sich letzten Endes als 
bloße Funktionen nackter Statusunterschiede. Zu 
dem Programm einiger Autoren, wie etwa Kracht, gehört es, 
dies auch  herauszustellen. Dabei kann man zu seinen 
Gunsten annehmen, dass die klebrig-bittere Verzweiflung, die
 man in seinen Texten findet, sich auch der so geschilderten
Ausweglosigkeit verdankt, dass am Ende nichts bleibt außer 
Status und Privileg.

Jedenfalls ist dieser Eindruck - wie auch immer des Autors
manchmal fast ins Dummreaktionäre kippende Statements
wirklich 
gemeint sind - produktiver als Matthias Polityckis gegen die
neue
 Pop-Literatur gerichtetes Aufwärmen der Kategorie des 
intelligent gemachten gegen den dummen Pop; in seinen Worten 
"Beck" gegen "Heintje". Du meine Güte! Wer sich gegen das 
prinzipielle Risiko der Peinlichkeitsnähe zu anderen, 
nichtnurintellektuellen, allerdings mit anderen 
Erkenntnismöglichkeiten begabten Zugangsweisen zu Pop 
absichern will, mit dem Bekenntnis zu Pop-Stars, die ganz
doll schlau
 samplen können, soll doch auf einer nassen Sting-CD 
ausrutschen. Nichts gegen lange Sätze, wenn sie gepflegt
sind. 
So einiges, dachte ich, hatten wir doch in den 80ern schon
geklärt.

 Das, was mir hingegen von dem in mancher Hinsicht irren und
ganz anderen Konzept einer Literatur im
 Popmusik-Umfeld aus den 80ern heute noch verteidigenswert
erscheint, ist nicht unbedingt das, was es
 mit Pop-musik gemeinsam hatte: nämlich die Idee einer
größenwahnsinnig-gesamtkunstwerkigen,
 universellen Verfügung über alle künstlerischen Mittel und
Traditionen. Es ist eher die gezielte Mischung
 aus Wissenstypen: Naturwissenschaft, Journalismus,
Privatsprachen, Politik, Sex, Dritte Welt - und Pop.
 Dies als genuine Chance der Literatur als Erkenntnisform,
die verschiedene Denk- und Diskursformen
 integrieren und konfrontieren kann: gegen den schon damals
anschwellenden Chor des
 Wieder-erzählen-Dürfens, der verschiedenen Rückrufe zur
Ordnung.

 Denn genau von einer solchen Konzeption der Literatur ist
die aktuelle Pop-Literatur am allerweitesten
 entfernt - und daher unfähig, über bestenfalls bittersüße,
aber schlaue Melancholie hinauszutreten. Über
 das Zelebrieren kleiner und großer, aber stets leerer
Differenzen und um dieser kleinen konformistischen
 Freuden willen, hat sie den gesamten Reichtum jener
expansiven, einen Außenstandpunkt suchenden
 Literatur, für die in Deutschland niemand so sehr stand wie
Hubert Fichte, vergessen. Zu Fichtes Zeiten
 hieß, als junger Autor für junge Leser zu erzählen, eben
gerade nicht, von dem zu sprechen, was man
 schon kennt, ein Repertoire aus Vereinbarungen darüber zu
etablieren, was man an Marken und
 Fernsehserien prägend hinter sich hat, sondern von dem, was
man tun könnte, was man wissen und
 erfahren könnte. Folgerichtig interessierte er sich für
andere Ausgangs- und Aussichtspunkte: Afrika,
 Postkolonialismus, synkretistische Religionen. Ein
deutscher Schriftsteller musste weg aus Deutschland.
 Auch in diesem Punkt hat sich alles gewendet.

 Deutsche Schriftsteller produzieren wieder eine Ironie, die
auf einem Normalfall aufruht, einer deutschen
 Mittelklasse-Normalität, für die sich keiner mehr schämt.
Alexander von Schönburg schrieb neulich in
 den Berliner Seiten: "Das Kaisers-Geschäft kann man,
Richtung Bergmannstraße gehend, nicht
 passieren, ohne von dort herumlungernden Gestalten
angesprochen zu werden. Meistens wollen die
 jungen Leute, die wahrschein- lich durch
Rauschgiftabhängigkeit ins soziale Elend gerutscht sind . .
." Die
 elende Verschmitztheit, mit der hier ein innerer
Spazierstock stolz antiquierte Ausdrücke aufspießt, weiß,
 dass weder Ressentiment gegen die Penner noch Solidarität
oder Mitleid irgendwie in Frage kommen, ja
 auch nur noch vor demselben Horizont stattfinden: Die
elenden jungen Leute sind genauso weit weg wie
 die komische Sprache, derer man sich hier amüsiert
befleißigt. Man hat mit allem nichts zu tun und kann
 es deswegen so schön beschreiben und benutzen. Billig,
darauf zu hoffen, dafür das Kompliment
 dandyistisch einstreichen zu dürfen.

              Schutzraum vor Positionen

 Dagegen hilft aber auch nicht Maxim Billers zorniges altes
Einklagen moralischer Kerle-Literatur.
 Literatur kann moralischen Imperativen nicht ohne Verlust
genau des ihr spezifischen
 Erkenntnisvermögens gehorchen, sie kann nur in Verbindung
stehen mit moralisch-politisch begründeten
 Entwürfen und Bewegungen. Und weil damit jeder neugierige
junge Mensch automatisch in Verbindung
 stand und die Literatur die Wissenstypen mischte, passierte
das früher von selbst. Gerade indem sie sich
 für die Literatur entscheiden, versuchen sich aber heute
die meisten jungen Autoren von solchen
 selbstverständlich immer noch möglichen Bezugnahmen
abzusetzen. Das alte Medium dient als License
 zur Nullposition. Aus der Chance zur Offenheit und
Ambivalenz wird ein Schutzraum, wo ich keine
 Position zu haben brauche. Ob man das nun nur erbärmlich
findet oder an Regentagen gut verstehen
 kann.

 An solchen lese ich am liebsten Marcel Beyer. Der weiß auch
viel über Popmusik und schreibt darüber -
 aber an anderen Orten als in den vor allem ernsthaften
Büchern von ihm, die von etwas ganz Anderem
 handeln. Sehr genau und eigenlogisch literarisch - und eben
doch mit einer Verbindung zur Realität einer
 geschichtlichen Welt.

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