Pit Schultz on 4 Oct 2000 17:28:14 -0000 |
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[rohrpost] Vernetzt und zerfetzt (tagespiegel) |
Vernetzt und zerfetzt Führen Medien und Entertainment die Demokratie in die Krise einer fragmentierenden Öffentlichkeit? Ein Symposion auf der Suche nach dem verlorenen Gemeinsinn Richard Herzinger Zerstört die Ausbreitung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien den Zusammenhalt der demokratischen Gesellschaft? Die Tagung "Zerstreute Öffentlichkeiten - Zur Programmierung des Gemeinsinns", die vergangene Woche vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit der Humboldt-Universität veranstaltet wurde, wollte dieser Standardfrage besorgter Fortschrittskritiker auf unkonventionelle Weise nachgehen. Wissenschaftler sollten ihre Thesen in kurzen Vorträgen vorstellen, um sie in anschließenden Diskussionsrunden mit den Erfahrungen von Praktikern aus Politik, Journalismus und Medienindustrie zu konfrontieren. Von dieser Versuchsanordnung versprach man sich eine produktive Durchdringung der ansonsten streng geteilten Diskurswelten. Herausgekommen ist bei dem dreitägigen Experiment in der Berliner Hochschule der Künste jedoch nur ein weitschweifiges Aneinandervorbeireden. Das Scheitern war programmiert, als die Veranstalter gleich zu Beginn der sogenannten "Medientheorie" das Wort erteilten. Die konnte nun einmal mehr das ganze Elend ihrer phantasmagorischen Weltsicht demonstrieren. Ihre Koryphäen sind Literaturwissenschaftler und Philosophen, die ihr essayistisches Vagabundieren durch die unterschiedlichsten geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen seit einigen Jahren unter dem ebenso wohlklingenden wie diffusen Namen "Kulturwissenschaften" annoncieren. Zum Status einer Theorie fehlt ihren Spekulationen übers Mediale jedoch sowohl ein nachvollziehbares begriffliches und methodisches Instrumentarium als auch ein anschaulicher empirischer Bezug zu der Realität, die sie zu analysieren behaupten. Diese behandeln sie vielmehr wie einen "Text", den sie mit ihrer eigenen metaphorischen Rede übermalen. Wissenschaftlichen Anstrich geben sie ihren Betrachtungen vor allem durch den Gebrauch von Versatzstücken aus Niklas Luhmanns Systemtheorie, die auch bei dieser Tagung als höchstrichterliche Autorität gehandelt wurde. Die Medientheorie leidet zudem unter einem performativen Selbstwiderspruch: Unermüdlich kündet sie von der Dezentrierung der Subjekte und Diskurse, tritt jedoch selbst im totalisierenden Gestus umfassender Welterklärung auf. "Medien" gelten ihr als eine gleichsam elementare Gegebenheit ohne eigenen Inhalt - und indifferent gegenüber den Inhalten, die sie transportiert. Luft und Wasser zum Beispiel, erläuterte der Philosoph Hartmut Böhme, sind Medien, denen es völlig gleichgültig ist, wer oder was sich in ihnen bewegt. Ähnlich verhalte es sich mit den Massenkommunikationsmedien. Ob im Fernsehen der Wetterbericht, eine Flugzeugkatastrophe oder ein Spendenskandal gezeigt wird - alles fließt unterschiedslos ein ins mediale "Universum des Designs", das, so der Literaturwissenschaftler Jürgen Fohrmann, ästhetischen Imperativen wie Tempo, Reichweite und Form folgt und sich dem Politischen grundsätzlich entzieht. Inmitten allgegenwärtiger medialer Erregung, unter dem Ansturm der "Bilderflut", die über unseren Köpfen zusammenschwappt und im Angesicht des virtuellen Gemeinschaftskörpers, jenem "transpersonalen, technisch verschalteten Zusammenhang sehr großer Menschenmassen zu einem Publikum" (Hartmut Böhme), wirken Politiker wie bemitleidenswerte Geschöpfe. Glauben sie doch noch immer daran, sie seien aktiv Handelnde im Sinne aufklärerischer Ideale. In Wirklichkeit seien die Medien längst in der Ökonomie des Geldes aufgegangen, mit dem sie ihre strukturelle Unempfindlichkeit gegenüber den negativen Folgewirkungen ihrer Expansion gemeinsam haben. Die Medien regieren demnach die Welt im Selbstlauf. Lebendige Menschen sind dabei nur ein Bestandteil der "Software". Oder genauer: Sie sind die "Redware" - jedenfalls, so lange noch echtes Blut in ihren Adern fließt und die natürlichen Organe noch nicht durch - mit dem Datennetz besser kompatible - Implantate ersetzt worden sind. Wobei man von Friedrich Kittler, dem Virtuosen medientheoretischer Begriffspoesie, erfahren konnte, dass die kaum noch steigerbare Entfremdung von der Wirklichkeit doch noch ein neues Stadium erreichen werde: Die Massenmedien würden bald gar nicht mehr auf reale Ereignisse Bezug nehmen, sondern nur noch von anderen Medien produzierte Botschaften ins jeweils eigene Format übertragen. So viel theoriegestützter Defätismus ließ auf Seiten der politischen und journalistischen Macher wenig Einsicht wachsen. Weder Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye noch Franziska Augstein von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" mochten in den akademischen Höhenflügen ihrer Gegenüber irgendeinen erkennbaren Bezug zu den Problemen ihrer täglichen Praxis erkennen. Kulturminister Michael Naumann hielt schon in der ersten Kaffeepause nicht mit seinem Unmut über den untergangstrunkenen Furor hinter dem Berg, mit der die Medientheoretiker das Bemühen seines Berufsstandes um die Belange der Res publica für obsolet erklärten. Da hatte er freilich erst die Ansichten der älteren kulturpessimistischen Fraktion der medientheoretischen Avantgarde gehört. Es folgten noch die Ausführungen der Vertreter der jüngeren, poststrukturalistisch geschulten Generation, die von Klagen über angebliche kulturelle Verluste im Prozess der Medialisierung der Öffentlichkeit gar nichts mehr hören wollen. Sie nehmen die permanente Revolution der Kommunikationstechnologien hin wie einen zweiten Schöpfungsprozess unter den Bedingungen digitaler Beschleunigung. Wer ihnen noch mit altmodischer Verstehensethik kommt, hat Pech gehabt. Vergeblich beschwor der Kommunikationsforscher Siegfried Schmidt den Referenten Joseph Vogl - seines Zeichens "Professor für Theorie und Geschichte künstlicher Welten" in Weimar -, er möge ihm zum Verständnis seiner Ausführung über den Zusammenhang von Medien und Apokalypse einige definitorische Handreichungen geben. Michael Naumann war da schon der Kragen geplatzt. Als Christoph Tholen (Kassel) die Reality-Soap "Big Brother" zum Modell eines neuen Typus authentischer Öffentlichkeit in Echtzeit ausrief, fing er sich eine geharnischte staatsministerielle Abfertigung ein: Hier handele es sich um einen ebenso naiven wie unverantwortlichen Vernetzungsenthusiasmus. Naumanns heftige Interventionen setzten einen Grundton der Gereiztheit, mit der die Praktiker die nihilistischen Anmutungen der Theorie zurückwiesen und ihr Selbstbild als tapfere Hüter des Gemeinwohls zu befestigten suchten. Zeitweise drohte die Tagung so in einen Kongress der beleidigten Leberwürste umzukippen. Hubert Markl, Präsident der Max-PlanckGesellschaft, zeigte sich von der Themenvorgabe seines Vortrags erbost, in der von der "Sprachferne" der Naturwissenschaften die Rede war. Er pries dagegen Präzision und Schönheit der Sprache der Naturwissenschaften und deren segensreiches Wirken für die Menschheit. Der Philosoph Jürgen Mittelstrass sprang ihm bei: "Sprachfern" sei allenfalls der Redeschwulst des Feuilletons, das neuerdings die rationalen Erkenntnisse der Wissenschaften verfälsche und sie von geschäftstüchtigen Fantasten wie Billy Joy und Ray Kurzweil zu Horror-Science-Fiction verfälschen lasse. Mittelstrass' Attacke ging freilich ins Leere. Denn ihr Hauptadressat, FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, stieß erst zwei Tage später zur Veranstaltung. Von der Diskussionsleitung wurde er auf die Provokation nicht angesprochen. Statt die Mechanismen aktueller Machtkämpfe um Diskurshoheit in der Medienöffentlichkeit auszuleuchten, und statt nachzuforschen, welche konkreten Personen und Gruppen mit welchen Mitteln und welchem Interesse Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung ausüben, pegelte sich die Tagung allmählich auf das Niveau eines unverbindlichen Talk-Show-Parlandos ein. Differenzierte Ansätze wie der Thomas Vestings (Augsburg/Florenz) gingen darin unter. Vesting zeigte, dass der Staat bei seinem Anspruch auf Kontrolle über die Medien noch immer einer vorliberalen Vorstellung von Gesellschaft als einer ideellen "Gesamtheit" folgt. Würde er die "Zerstreuung" von Homogenität erst einmal als zivilisierende Qualität begreifen, würden sich ihm auch wieder neue Handlungsspielräume zur Förderung ethischer Selbstregulation in den Massenmedien öffnen. Nach den Eindrücken der Berliner Tagung zu urteilen, ist unserer politischen Klasse so viel Mut zum Umdenken jedoch kaum zuzutrauen. Politiker wie Heiner Geißler, Christa Nahles und Guido Westerwelle demonstrierten ihren Unwillen, sich überhaupt auf eine theoretische Reflexion ihres Tuns einzulassen. Doch irgendwie konnte man ihre Verweigerungshaltung auch verstehen. Eine Wissenschaft, in der die alltäglichen Handlungsoptionen und Entscheidungsnöte real existierender Individuen kaum vorkommen, kann man nur mit einem Achselzucken übergehen. http://195.170.124.152/archiv/2000/10/03/ak-ku-de-11260.html ---------------------------------------------------------- # rohrpost -- deutschsprachige Mailingliste fuer Medien- und Netzkultur # Info: majordomo@mikrolisten.de; msg: info rohrpost # kommerzielle Verwertung nur mit Erlaubnis der AutorInnen # Entsubskribieren: majordomo@mikrolisten.de, msg: unsubscribe rohrpost # Kontakt: owner-rohrpost@mikrolisten.de -- http://www.mikro.org/rohrpost