Anne Schreiber on 9 Jan 2001 15:23:12 -0000


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[rohrpost] Berliner Gazette, 10.01.


Goethe auf Speed
oder:>>In letzter Zeit verspuere ich diese Elektrizitaet aus dem
Weltall<<.

[  ] E-Glosse: Krystian Woznicki, Kritiker [1]

Gern hoeren wir ihm zu, wenn er ueber den Zustand der Literatur redet.
Aber meist nur mit einem Ohr. Sicher, wenn Berlins renommierter Verleger
Klaus Wagenbach zu einer Polemik GEGEN die Kultur der Beschleunigung
ansetzt, spricht er auch uns gehetzten Gemuetern aus der Seele. Und wenn
er dann vom Buch als Medium der Verlangsamung spricht, dann will auch
ich sofort wieder ein Buch zur Hand nehmen. Und ueberhaupt: nur noch
lange, tiefschuerfende  Buecher lesen. Eintauchen in die semantische
Tektonik eines Joyce-Waelzers, oder die Untiefen eines Mann' schen
Zauberbergs...

Doch sprechen Wagenbach & Co. leider nicht der zeitgenoessischen
literarischen Kultur aus der Seele, und vorallem nicht den LeserInnen.
Zu langatmig befindet der Durchschnittskonsument und zu zeitaufwendig.
Auch mangele es an Konzentration, um nach Feierabend die Metamorphose
zum Buecherwurm tatsaechlich wuenschenswert erscheinen zu lassen. Also,
was hoeren, bzw. lesen wir mit dem anderen Ohr?

Wenn ich jetzt BILD-Zeitung sage, denken mit Sicherheit alle
augenblicklich an Verfall. Doch langsam. Erstaunlich ist es doch, und
vielleicht nicht nur ein Symptom kultureller Desintegration, wie sehr
der Stil des Volksblatts auch serioese Publikationen beinflusst zu haben
scheint. Z.B. brandeins: Niemandem wird entgangen sein, wie kurz und
praegnant das Sprachrohr der neuen Wirtschaft ins besondere Einleitungen
zu Features in Szene setzt. Beispiel: >>Dies ist keine Metapher, sondern
Realitaet: Wenn sich die Welt veraendert, kann sich ein Randgebiet
ploetzlich im Zentrum wiederfinden. Zum Beispiel Aachen. Mitten in
Europa. Die Perle im goldenen Dreieck: Niederlande, Belgien,
Deutschland.<<

Kein Wunder, dass sich brandeins dieser Sprache bedient, es behauptet
damit seine Naehe zur E-Speed-Kultur des Internets. Und darin heisst es:
Fass Dich kurz und buendig, denn meine Aufmerksamkeit kennt Grenzen. Ein
Wunder, wenn auch ein kleines, ist jedoch, dass die Macher, vor allem
auch durch das Layout (etwa, ein Wort pro Zeile), in dichterische
Dimensionen vorstossen. 

Dass die Kultur der Kurznachricht auch eine literarische Seite hat,
daran glaubt auch der Uzzi-Verlag [2]. Vielleicht noch im Hinterkopf,
dass das Format der Novelle vor einigen hundert Jahren aus dem
Beduerfnis enstand, Neuigkeiten literarisch zu verpacken, loben die
Verleger den SMS-Literarturwettbewerb >>160 Zeichen<<[3] aus: Literartur
auf kleinstem Raum eben, geschrieben in U-Bahnen und auf
Autobahn-Raststaetten. Knapp 115 Zeichen stehen zur Verfuegung, also
nicht nur Buchstaben, sondern auch sogenannte Sonderzeichen. Zwar ist
die deutsche Sprache der Rahmen, doch Rechtschreibung kein Kriterium,
eine offene Einladung also zum Kollagieren. Es lebe der Zeichensalat!
Hauptsache man ueberschreitet die 160-Zeichen-Grenze nicht. Die Berliner
netzeitung berichtete[4]. 

Gerald Joerns, der ueber diesen Wettbewerb fuer Telepolis [5] schrieb,
hat im Forum des Online-Magazins fuer Internetkultur eine Reihe von
Reaktionen auf seinen Text erhalten. Am 5.1. hinterliess ihm der
Berliner Literaturwissenschaftler Florian Cramer [6] eine Kurznachricht
[7]. Im Copy/Paste Verfahren implementierte er einen Vers von Goethe,
der eben auch nicht laenger als 139 Zeichen sei. Wie - die Literatur der
Kurznachricht, doch schon einige Hundert Jahre alt?

Was Cramers Posting darueber hinaus doch auch verdeutlicht: Literatur im
E-Text-Zeitalter sucht sich neue Orte. Ob auf Handy-Displays, in
Mailboxes oder eben auf den Blackboards des oeffentlichen elektronischen
Raums. Als Reaktion auf einen Text von mir ueber Bandais neue
Mailsoftware >Love by Mail< [8] hat ein/e anonyme/r LeserIn gleich eine
Kurzgeschichte im Telepolis-Forum abgelegt [9]. Also da, wo sonst nur
abgehacktes In-die-Tonne-Treten (Kritik) oder kurz aufflammende
Zustimmungen (Lob) aufzufinden sind...

1. mailto:krystian@snafu.de
2. http://www.uzzi-verlag.de/
3. http://www.160-zeichen.de
4. http://www.netzeitung.de/servlets/page?section=724&item=125773
5. http://www.heise.de/tp
6. http://www.complit.fu-berlin.de/institut/lehrpersonal/cramer.html
7. http://www.heise.de/bin/tp/forum/get/telepolis/6221/9.html?outline=-1
8. http://www.bandai-net.com/english/imode-e.html
9. http://www.heise.de/bin/tp/forum/get/telepolis/5986/1.html?outline=-1

Fuer die kommenden Tage sind folgende Termine in Deinen Kalender
aufzunehmen:

Mi - 10.1.

V o r t r a g : Im Rahmen der Ausstellung Theatrum Naturae et
Artishalten Horst Bredekamp vom kunstgeschichtlichen Seminar der
Humboldt-Universitaet sowie Thomas Schnalke vom Berliner
Medizinhistorischen Museum einen Vortrag ueber den Menschen in Wachs.
Der Fokus liegt auf medizin- und kunstgeschichtlichen Ueberlegungen zur
Problematik der Scheinleiber. Ort: Lichthof im Martin Gropius Bau,
Niederkirchenerstrasse 7, 18 Uhr.

Fr - 12.01

W e t t b e w e r b : Jaehrlich zum 2. Mai wird im Gedenken an den
Verleger Axel Springer der Axel Springer Preis fuer junge Journalisten
vergeben. Der Foerderpreis wird in den Kategorien Print, Hoerfunk, TV
und erstmalig auch fuer Internetjournalismus verliehen wobei es fuer
jede Kategorie drei Preise gibt. Einsendeschluss der Reportagen und
sonstigen journalistischen Beitraege ist der 12.1. Kontakt: Axel
Springer Preis fuer Junge Journalisten [http://www.asv.de/aspreis].
E-Mail: mailto:aspreis@asv.de, (Print, Hoerfunk, TV),
mailto:aspreis-online@asv.de (Internet)

So - 14.01.

K i n o : Multitalent Takeshi Kitano, kuenftig mit seinem neuen Epos
>>Brother<< [http://www.brother-derfilm.de/] in deutschen Kinos, ist 
sich auch als Schauspieler fuer nichts zu schade. Killer. Bad Cop.
Yakuza. Vollidiot  nach den >harten< und abgedrehten Rollen, hat er 
nun eine >weiche< uebernommen. In Nagisa Oshima neuem Film >>Gohatto<< 
spielt er einen homosexuellen Samurai. Der Film selbst ist mit dem 
Vorhaben beschaeftigt dominante Samuraithemen zu dekonstruieren. 
Ort: Central Kino, Rosenthalerstr.39, 20 Uhr.

Bis naechste Woche,

Anne Schreiber
mailto:anne.schreiber@student.hu-berlin.de

PS: Anfang Dezember 2000 ist die erste Ausgabe des eJournals Zaesuren
[http://www.zaesuren.de] erschienen, das, wie seine Bezeichnung bereits
suggeriert, seinen Fokus auf Brueche, Schwellen und Risse in Politik,
Oekonomie, Philosophie und Kunst legen will, die gerne in einem Atemzug
mit dem Begriff der Postmoderne genannt werden [1]. Im Gegensatz zu
jenem feuilletontauglichen Begriff suchen die drei Herausgeber jenseits
von Epochenmarkierungen >>Zaesuren<< zu denken, danach zu fragen, um sie
nicht sogleich wieder in ein Einheit stiftendes Denksystem, wozu der
Begriff Postmoderne verfuehren kann, einzuordnen. Neben den drei
Herausgebern Hans-Joachim Lenger, Joerg Sasse und Georg Christoph Tholen
[2] arbeitet ein Advisory Board an der Internationalisierung des
eJournals. So sollen neben deutschsprachigen in Zukunft auch englische
und franzoesische Beitraege einer internationalen Leserschaft
zugaenglich gemacht werden. Zaesuren ist sowohl als online-Ausgabe als
auch als Printversion erhaeltlich.

1.http://www.BerlinOnline.de/aktuelles/berliner_zeitung/feuilleton/.html/08artik001909.html
2.http://www.nettime.org/rohrpost.w3archive/200012/msg00147.html

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