cantsin on 12 Jun 2001 19:26:20 -0000


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[rohrpost] Wies Baden



Wies-Baden


Während einer unschlüssigen Phase nach dem Abiturium litt ich pünktlich
an neoistischen Entzündungen, die ich abends immer mit Wodka kühlte. Am
folgenden Tag stand ich spät auf und paukte mit Eifer, bis zur nächsten
Abkühlung, einen, von hier aus betrachtet, doch ziemlich vermatschten
und in Nebensachen zerzausten Gedankenkleister in einen Computer, der
'Amiga' hieß: Alles streckenweise von kühner Bauart und ironischer
Bedachtsamkeit, im Effekt aber ein Imponierklumpen, ein umgehexter
Pynchon mit Borges-Schmuck und selbsterfundenen Texten, die dann
zitiert wurden. Frauen, die besser Beate Spitzvogel geheißen hätten,
die nannte ich Karen Eliot und ließ sie unfaßbare Sachen sagen, z.B.:
"Monty! Ich habe kombiniert und festgestellt, daß das lateinische Verb
'inerat' die Schnittmenge bildet von 'Inverarity' und den Buchstaben
meines eigenen Namens. Die restlichen Buchstaben, e-k-o-l, lese ich
als 'école', was mich an meine Kindheit an der New York Correspondence
School erinnert. Die Summe ihrer alphabetischen Werte - 5+11+14+12 - ist
zweiunddreißig, in der Quersumme fünf, und ergibt mithin die Initiale
meines Familiennamens; so daß 'Inverarity' als Code für 'Inerat école
und 'Inerat Eliot' erschiene und die restlichen Buchstaben V-RI-Y
gleichermaßen für 'verity' und 'variety' stehen".

Na Prost! Darunter verleimte ich dann, damit's allen einleuchtete, eine
ausgeschnittene Arschbacke mit Gurken, die ich selbst geknipst hatte.
Das Buch sollte hervorstechen, dick sein und "Die Anatomie des Neoismus"
heißen: Eine in die Läufigkeit meines Lebens verfummelte Angelegenheit,
mit viel angelesenem Unfug garniert, im Grunde aber gutartig und
förderträchtig, um nicht zu sagen: begabt! Es ist klar, daß man sich
für was Besonderes hält, wenn man groß herauskommt, obwohl man schlecht
ist. Aber man hält sich auch für was Besonderes, wenn man nicht groß
herauskommt, obwohl man Klasse hat!

Ich kopierte ein paar meiner Ansicht nach besonders starke Stellen und
schickte sie ohne Rückporto mit wichtiger Nachricht an alle bedeutenden
Verlagshäuser: "Liebe Frau Paris, lieber Herr Gente! Dies sind Ausschnitte
aus 'Der Anatomie des Neoismus'. Das Manuskript wiegt 312 Seiten, enthält
neben Orginalfotos orginal Montagen und ist heute um 15:30 Uhr an die
wichtigsten deutschen Kleinverlage verschickt worden. Im Falle anständiger
Vergütungsofferten werden Erstantworten mit besonderer Aufmerksamkeit
betrachtet. Kürzungen kann ich keinesfalls hinnehmen. Hojotoho! Monty
Cantsin." Zu meinem Erstaunen reagierte keiner!

Damals dachte ich: Das gefällt keinem. Die Alten verstehen dich nicht!
Heute vermute ich: Obwohl sie inzwischen jünger sind als ich, verstehn
sie mich immer noch nicht, aber ich begreife, daß sie diese Einsendungen
gar nicht lesen können. Sie stopfen sie in den Manuskriptmüllshredder,
damit sie Ruhe für die Zeitung haben, woraus sie erfahren, was los
ist in der Welt, auch des Buches. Und sie telefonieren den ganzen Tag,
weil sie froh sind, wenn ihnen jemand fernmündlich steckt: Hier, druckt
das mal, das ist gut! Da können sie gleich wieder rüber zum Italiener,
Zeitungen lesen oder saufen. Hätte das Fatum damals telefonisch auch an
mir protegierend gewirkt, dann bräuchte ich mich heute, mit fast vierzig,
nicht als ewiger Jungtürke auf verderbende Weise unter Wiesbadener
Subversivkünstler mischen und von Kongreßkritikern durchleuchten lassen.

Dennoch bin in ich froh, daß es nichts wurde. Man wußte damals nicht, daß
man, zum Vorteil aller, noch langwierige Reifeprozesse würde durchstehn
müssen. Man merkte, in dieser Branche läßt sich zwar auch viel Effekt in
Affekt und Affekt in Effekt umzaubern, und es bedarf, um vorzurücken,
immer auch einer gelungenen Ausdeutung und glücklichen Förderung durch
gewisse Zelebritäten, aber im Kulturbetrieb sahen die sich den Blödsinn,
und zwar den unfaßbarsten, im Wahne ihres ewigen Trendverpassens immer
doch erst wohlwollend an, bevor sie die Daumen kippten.

In diese Verdrossenheit blinkte mein E-Mail-Programm. Eine Wiesbadener
Künstlergruppe plante ein Kongreß-Festival über "Strategien und Taktiken
für Kunst und soziale Bewegungen", und sie hatten etwas über Neoismus
gelesen: Das ist ganz keck, und da gibt's noch ein paar Leute, und nun
schrieben sie mir, baten um ein Stück zur Lage des Neoismus früher in
West-Berlin, dem subventionierten Irrenhaus der westlichen Welt. Also
gut, man konnte wieder nicht richtig jein sagen und so erzählte ich
vom Freunde Stiletto, dem großen Performer. Dabei war Stiletto gar
kein Künstler, Stiletto war arbeitsloser Möbelpolsterer, aber er war
auf naturwüchsig verschlagene Art jederzeit auch ein Alltagsaktionist
und Situationsakrobat. Ich hatte mich mit ihm mal aus Gründen eines
dringenden Durstes in irgendein vornehm blödes Restaurant verirrt. Wir
standen im gleißenden Licht schicker Lampen, welche haushohe Langusten
und ein hocherotisches Dienstpersonal bestrahlten, das uns ignorierte,
weil sie bemerkten, Vorsicht!, die zwo neuen Herrschaften, die sind
wohl ein bißchen angebraten. Wir blickten uns ratlos einäugig um. Da
erfaßte Stiletto die Lage und brüllte plötzlich: "Frollein! Können
Se mir mal einen Blasen?" Und als sich der ganze Saal verschreckt
umschaute, nach genialer Pause: "- - Und Nierentee bringen?!" Sie
hatten keinen, also durften wir gehen, und der Witz wurde geklaut. Nun
hatten wir Freund Stiletto mal anläßlich eines Neoistenfestivals, wo
sie gewöhnlich irgendwelche in Plastikfolie verpackten Peinlichkeiten
zelebrierten, solange bearbeitet, bis er einwilligte, eine offizielle
Nudel-mit-Tomatensoße-Aktion aufzuführen, wo er beim Essen dann eine
Rede hielt, wieso es nämlich habe sein sollen, daß er in der Küche,
vorhin beim Kochen, in die Tomatensoße habe wixen müssen. Bumm! Alle
saßen sie in Kunststarre da und glotzten 'al dente' den Stiletto an;
ein paar kotzten und ein paar freuten sich!

Davon wollte ich auch in Wiesbaden unter dem Titel
"Kotzen-Nutzen-Rechnung" erzählen. Ich war zwar unsicher, ob ich da hin
paßte. Ich gehöre zu denen, denen irgendwelche Strategien und Taktiken
schnurzegal sind und die, politisch gesehen, ihr Kreuzchen übers ganze
Spektrum verteilen, jedesmal ne andere Partei. Da "Neoismus" aber nun
mal ein "Ismus" ist, oder das zumindest behauptet, dachte ich: Gut,
biste jetzt Taktiker und Stratege, fährste hin. Kommste mal wieder raus
aus dem Kiez, erlebste mal wieder was! Dieser Strategiebetrieb wird
nicht unergiebiger sein als das wundersame Neoismus-Wesen. Haste was zu
erzählen, überholste langsam erzählerisch die zu erzählenden Ereignisse
mit dem Zug. Man reiste nämlich auf Kongreßkosten mit dem ICE. Dann
stieg man in Wiesbaden in einer brutalen Geranienanmache namens "Klee
am Park" ab, wo auch schon wieder neue Anweisungen vorlagen, wie und
wann man abends zum Begrüßungs- und Bekanntschaftsfresserchen mit den
Kongreßleuten in eine dieser Pizzerien verfrachtet werden würde.

Es blieb Zeit, um sich nach den Reisestrapazen zu erfrischen. Ich
sah mich um in der Suite. Sie hatten sich nicht lumpen lassen! Eine
nobel parfümierte Absteige. Ich inspizierte die Minibar und beschloß,
daraus einen Teil meiner ehrlichen Steuerzahlungen, die jetzt über den
Wiesbadener Kulturetat auch den Kongreß subventionierten, wieder in meinen
Besitz zu überführen! Aufs erste in Gestalt eines Bocksbeutelchens. Dann
knipste man wie üblich die Kiste an und entweihte mit einer Arschbombe
die Kissen. Im Bad - welches in etwa so groß war, wie die Wohnung,
in der ich mal sechs Jahre zu zweit gewohnt hatte - dröhnte einem die
Sanitärpracht eines unter Waschzwang jauchzenden Kräutergartens entgegen,
wo reihum schlohweiße, mit Kleeblättern bestickte Frotteevierpfünder an
baumstammähnlichen Aufhängungen bammelten, und überall lagen kleine,
dicke, flauschige Fußmatten herum, damit man sich beim Pullern die
Füßchen nicht verkühlte. Am meisten verblüffte mich die Badewanne,
ihre Geräumigkeit ließ vermuten, daß sie nur an Gäste mit Freischwimmer
vergeben werden durfte. Darüber ein stattlicher Kran und: drei Paar
Wasserhähne! Auf Messingschildern stand: Trinkwasser, Brauchwasser und -
Thermalwasser! Jeweils rot und blau. Ich lutschte mal dran: Tatsächlich,
leicht salzige Kurtunke, die sie auf vornehme Weise vom Erdinneren bis
rauf ins Kleeklo sprudeln ließen. Ich bade sonst nie, aber hier hatte ich
sofort den Fimmel: Du warst nie auf Kur, jetzt gehst du sofort mal auf
Kur! Die zahlt der Kongreß! Zügig betankte ein armdicker Thermalstrahl
den Badebottich und ich plantschte vergnügt mit Badethermometer und
Bocksbeutel in dieser dampfenden Sole umher. Prachtvoll! Ich geriet erst
in einen Zustand euphorischen, dann matten Wahnsinns. Ich bekam so eine
Art Dachschaden der sowohl sedierenden als auch anfachenden Sorte. Als ich
dem Zuber entstieg, stand ich krebsrot vor einem Spiegel und entdeckte mit
Entsetzen darin mich und ein neuerliches Messingschild, in das sie eine
spiegelverkehrte Warnung graviert hatten: "Verehrter Gast! Thermalbäder
nicht ohne ärztliche Erlaubnis, nie wärmer als 35 Grad, nicht länger
als fünf Minuten!"

Dampfend und altrosa aussehend kroch ich rüber aufs Bidet, hockte wie
ein schwitzender Lappen auf dem Klodeckel während sich meine Zunge wie
Auslegeware anfühlte. Ich hatte dreißig Minuten in dieser Lauge mariniert
und jetzt war klar, warum es ein Badethermometer gab; ich hatte es beim
Schiffchenspielen durch nachlaufende Dampfsole zum Schluß auf stolze
46 Grad getrieben! Im Liegen nahm ich ein Beruhigungsbier und fraß
eine halbe Platine Aspirintabletten. Dann erwartete man unten die Taxe
zum Kennlernfresserchen. An der Rezeption hielt sich ein altgedienter
Hotelportier mit Zwitscherblick und überkämmter Glatze bereit. Schwitzend
wie ein Gaul hielt ich mich am Tresen fest und fragte harmlos: "Sagen Sie
mal, was bewirkt dieses Thermalwasser eigentlich?" - Er sah mich entsetzt
an: "Ist Ihnen schlecht?" - Also, wenn er mich nun so fragte, war mir
natürlich gleich noch schlechter! Um aber ihm und mir Umständlichkeiten
zu ersparen, sagte ich: "Nein! Ich will nur mal so allgemein wissen,
was das für 'ne Flüssigkeit ist." Da beugte er sich rüber und machte
ein paar allgemeine Erklärungen: Es seien schon ältere Herrschaften und
andere Idioten hier in den Bottichen am Herzkasper verendet, vor allem,
weil die beim Baden söffen! - "Nee?", sah ich ihn entrüstet an! - "Doch!",
beschwor er, und hohe Blutdrücke - hatte ich natürlich! - würden noch
höher, während tiefe gewöhnlich weiter absackten. Abschließend behauptete
er noch, das Thermalwasser sei leicht radioaktiv!

In solch strahlender Verfassung kutschierte ich mit zwei
Kongreßveranstaltern namens Marcus und Renate im Taxi hinaus zum
Pizzawirt. Hier begrüßte uns der Moderator Sascha Büttner, ne janz ne
jute kölsche Jong, welcher ja morgen mit allen würde möglichst leger
plaudern müssen und nun beim Essen und Trinken schon mal ausloten wollte,
welch Temperamente uns zugeteilt waren. Und da saß ich nun, fraß leicht
verstrahlt eine wortkarge Pizza Tonno mit Schafskäse und begrübelte
mühsam, ob's besser wäre, für Herz, Gemüt und Fassade, wenn ich mir hier
jetzt einen ansöffe, und wenn ja, womit? Das sah hübsch nachdenklich
aus. Äußerlich ließ ich mir nichts anmerken, schwitzte nur stetig. Die
müssen sich dennoch gewundert haben: Das ist nun also dieser ulkige
Neoist?! In Wahrheit is er wohl ein dumpfer Stoffel. Eine taube Nuß! Sowas
soll es geben. Ich spürte diesen Argwohn und versuchte wenigstens ab und
an ein blöd verbindliches, an allen Gesprächen interessiertes Grinsen
aufzusetzen. Dann hatte ich alles schön aufgegessen und erklärte, daß
ich sofort mal wieder heim ins Hotel müsse! Alle waren verblüfft! Ich
auch! Unter normalen Umständen gehe ich als letzter! Nun aber schloß
ich mich - obwohl's mir ungeheuer peinlich war - dem Referenten Doktor
Reinhold Grether an, welcher - nicht so der Säufertyp - zum Glück auch
früh zu Bett wollte, damit er anderntags gewisse Theoriepapiere umso
bedachter zu rezitieren in der Facon sein würde. Matt lief ich diesem mir
völlig fremden Typus des Frühheimkehrers ins Taxi hinterher. Da guckten
wieder alle verwundert: Das also soll dieser saufende Berliner Neoist
sein?! In Wahrheit ein seniler Bettflüchter! Wir trafen gegen halb zehn im
Hotel ein. "Ich leg mich hin", sagte Grether. - "Ich auch." Ich legte mich
vor den Fernseher. Dann stand ich immer mal auf und kotzte. Grün-Kotzen in
Wies-Baden, im "Klee am Park"! Das hatte ich mir anders vorgestellt. Ich
erwog, ob ich, als Gegengift, nochmal so ein strategisch und taktisch
gesetztes Extrembad nehmen sollte, aber sie hatten die unberechenbare
Lauge, wahrscheinlich aus Sicherheitsgründen, bereits seit neun abgedreht.

Erschlagen und fiebrig zugleich spukte ich entgeistert die Nacht in meiner
Suite herum. Um etwas Besinnung zu erlangen, trat ich gegen fünf Uhr früh
einen elenden Latsch durchs geranienverhangene Wiesbaden an. Aber es half
nichts. Mit solcher Gemütsfärbung, also doof bis halbtot, hockte man dann
sechzehn Uhr nachmittags im Vortragssaal. Dann saß man mattrosa da und
wartete aufs Startsignal. Auch war eine Verena Kuni eingetroffen, welche
ebenfalls auf der Referentenliste stand, und welche ein wenig ratlos auf
mich zutrat und, während wir uns schüttelten, zugab: "Ich kenne Dich
gar nicht!" - "Das macht gar nichts", sagte ich, "ich kenne Dich doch
auch nicht!" Erleichtert ließen wir uns fortan in Ruhe. Derweil stritten
sich im Bereich des Zentralgeschehens der Moderator Sascha Büttner und
ein wichtig wirkender Hugenotte um allerhand Detailquatsch. Durch das
Gezänk stellte - oder sollte sich herausstellen, daß er der Direktor des
Museums war, in dem der Kongreß stattfand. Als ich etwas lauter: Wozu
man für sowas hier denn einen Direktor brauche?, ins Auditorium sprach,
sahen mich alle ganz erschrocken an. Ich erschrak ebenfalls und schlich
zurück an den Rand, wo ich arg bedauerte. Es war scheißegal: Ich würde
hier in Wiesbaden eben den kranken Kurgast geben, der Moderator würde zum
Erstaunen des Publikums einen sprachlosen Schwitzer über seine Redezeit
bugsieren und das Publikum würde eine neuerliche Niete kennenlernen. Alles
nichts Ungewöhnliches! Und dann Feierabend! - Ich hatte es so gewollt! Ich
wollte ja partout kein Stratege sein! Lieber wieder scheitern.

Doch plötzlich leuchtete in meiner inneren Ödnis ein geradezu gnostisches
Fünklein auf! Moderator Sascha hatte mir an diesem desolaten Vorabend
irgendwann erzählt, daß es im Museum im Café den berühmten ungarischen
"Zwack Unicum"-Kräuterlikör gäbe, der übrigens auch in Neoistenkreisen
traditionell geschätzt wird. Auf dieses Thema war ich prompt mit
aufgesprungen! Vorübergehend geöffnet, hatte ich mit ihm eine kurze
Strecke blitzgescheite Gespräche geführt, war dann allerdings schnell
wieder weggeknickt; er wunderte sich kurz, fragte, ob es mir gut
ginge und unterhielt sich, als ich gnadenlos bejahte, lieber mit wem
anders weiter. Ich schlich also, da sich alles Kongreßtechnische und
Mitmenschliche so endlos hinzog, fort ins Museumscafé, kaufte drei
'Zack Unicum' und einen 'Kümmerling' und soff alle vier unverzüglich,
Stück um Stück, auf dem verriegelten Herrenklo, damit keine unnötige
Besorgnis bei den Veranstaltern aufkommen konnte. Die Wirkung dieser
Erfrischung war kolossal. An meinem Auftritt konnte sowieso nichts weiter
vermatscht werden. Aber siehe da, mein Blutdruck regulierte sich, mein
Geist frischte auf und da bekam ich dann doch noch eine recht gesunde
Darbietung hin. Der Moderator setzte die Vermutung in die Öffentlichkeit,
der Alkohol spiele eine gewisse Rolle im Neoismus. Ich erwiderte charmant,
das könne man so nicht sagen. Und Schluß!


Hurtig wiesen sie mir die dreihundert Meter Fußweg zum Bahnhof und ich
eilte zurück nach Berlin, denn ich hatte an diesem Abend schon wieder
Verabredung auf ein Arbeitsessen. Was langsam ungemütlich wurde. Ständig
muß irgendwas beim Essen besprochen werden, nur weil man Neoist ist. Wir
hockten in einem gehobenen Berlin-Mitte-Imbiß und plötzlich gingen drüben
in Kreuzberg eine Rakete hoch! Der SV Yesilyurt hatte beim Endspiel
des Berliner Paul-Rusch-Pokal die TeBe-Oberligamannschaft mit eins
zu null besiegt. Na gut! Meine Tischdame unter den Arbeitsesserinnen
hatte es mir besonders angetan. Ich bot mich an, sie mit der Droschke
daheim abzusetzten; wir entschlossen uns dann aber beide angesoffen noch
eine Rentnerkneipe zwischen SPD-Haus und Jüdischem Museumszickzack im
westlichen Kreuzberg aufzusuchen. Eine köstliche Stimmung dort! Mit
Auffordern und Abklatschen betanzten ein paar Zahnlose aktuelle
Schlager. Ein gutes Dutzend beladener Menschen war entschlossen zu feiern
und seine Sozialhilfeschreie auf Morgen zu verschieben. Während ich
beim Ententanz meiner Tischdame großspurig vom Auftritt in Wiesbaden
erzählte, betraten ganz unerwartet drei junge Männer die Gaststätte
und befahlen allen, sich auf den Boden zu legen. Man tat dies sofort
wegen ihrer Masken und Revolver. Nun schlug einer von den dreien mit dem
Brecheisen auf einen leider sehr störrischen Geldspielautomaten ein. Das
steigerte den Zorn der drei. Der zweite Mann begann am anderen Ende der
Kneipe Einzelbetreuungen vorzunehmen, indem er den Liegenden nach und
nach und besonders intensiv auch der Wirtin seinen Adidas-Turnschuh in
den Leib trat und einen jeden aufforderte: "Geld! Oder isch leg eusch
um!" Der dritte Mann stand in der Mitte, hielt mit einem verchromten
Riesenpüster alle übrigen in Schach und brüllte sehr hysterisch, weil
er am wenigsten zu tun hatte und voller Ungeduld mitansah, wie der
erste Mann weiter erfolglos auf diesen Spielautomaten einschlug. Dann
kam ich an die Reihe. Der Einzelbetreuer trat einsatzfreudig auf mir
herum und ich übergab ihm meine Kongreßgage, wofür er sich mit "Scheiß
deutsche Faschistenschwein!" bedankte. Ich kroch zurück unter eine Bank,
hatte gerade meine dritte Sterbeszene seit gestern überlebt und dachte:
Mich kriegt irgendwie keiner tot!

Dann gab der Spielautomat nach, die Front flog auf, wobei Plastikschalen
mit Geldstücken auf den Boden fielen. Meine Begleiterin wurde
aufgefordert krauchend Münzen einzusammeln. Dabei trieb sie der Mann
mit dem verchromten Revolver zur Eile an, indem er "Schnell, deutsche
Nutte!" und ihr in den Arsch tretend "Fotze!" sprach. Da lag man nun -
gottlob angesoffen! - unterm Tisch und schaute herzlos zu, wie drei miese
Metöken die mir zugeteilte Tischdame entehrten. Unter den Stühlen klebten
jede Menge Kaugummis, die man sonst nicht so bemerkte. Und dann standen
alle langsam wieder auf, setzten sich aber gleich wieder hin und saßen
nun da, wie alle blöden Opfer hinterher immer dasitzen. Fassungslos und
lächerlich. Und dann kam man langsam in Rage, forderte Bewaffnung für
Unbescholtene (ich nur Bewaffnung für Unbescholtene mit Hochschulreife)
und Todesstrafe! "Ich knall die ab!" kreischte ein Gasttrinker arabischer
Herkunft: "Die scheiß Kanacken!" Sie hatten ihm einen Ring abgezogen,
an dem angeblich irgendwie die Ehre seiner Familie klebte. Ich
mußte kichern. Meine Tischdame heulte vor Wut. Dann traf ein hilflos
umhertappendes Polizistenpärchen in Plusterkleidung aus 'Goretex' ein
und füllte mit uns Fragebogen mit drei Durchschlägen aus. Das beruhigte
alle ein wenig. Als ich eine Anzeige wegen Inländerfeindlichkeit machen
mochte, bedauerten beide, so etwas gäbe es so nicht. Na gut, da gehen
wir eben alle mal nach Hause!

Man soll auch nicht alles so ernst nehmen im Leben! Morgens früh erst
komme ich nach Hause, da steht auf einem Zettel: "Wiesbaden hat sich
gemeldet, sie wollen Dein Honorar zurück wegen Betrug, Plagiat und
Hochstapelei." Ich dachte: Jetzt wird's happig! Es ist immer schön,
wenn man Steilvorlagen für die eigene Legendenfabrikation kriegt, und
nun gleich mit den klassischen Neoismus-Attributen? Zuviel der Ehre!


cantsin@neoism.net


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