Ralf Knüfer on 19 Sep 2001 16:40:55 -0000


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[rohrpost]Theweleit zu New York


"Innere Panzerung wäre die Idiotenlösung"
Statt Horrorszenarien weiterzuspinnen, sollte man das Gesprächsvakuum
füllen: Klaus Theweleit, Autor von "Männerphantasien" und "Buch der
Könige", über mediale Ruhigstellungen, das Loch in der amerikanischen
Psyche und zu den Gründen, warum die Flugzeuge in die Tower flogen
Interview JÜRGEN REUSS
und DIETER RÖSCHMANN

http://www.taz.de/pt/2001/09/19/a0117.nf/text

taz: Herr Theweleit, was wurde eigentlich genau getroffen, als die
beiden Flugzeuge ins World Trade Center stürzten? Viele Zeitungen
sprachen von einem Stich ins Herz Amerikas, einige davon, dass den USA
der Kopf abgeschlagen worden sei.

Klaus Theweleit: Es war nicht nur der Kopf, es waren die Twins. "Twin
Peaks" von David Lynch, eine der erfolgreichsten Fernsehserien des
letzten Jahrzehnts, bezog sich auf zwei Berge, um die die amerikanische
Phantasie kreist. Die Twin Peaks, das waren die Brüste der
vergewaltigten Tochter, die negative Phantasie von der Bedrohung und des
Missbrauchs. Das positive Gegenstück dazu sind die Twin Towers, der
doppelte Schwanz, der sich als mächtiges Symbol erhebt über die ganzen
Widerlichkeiten und Gewalttätigkeiten der anderen, der negativ besetzten
Twin-Peaks-Ebene. Die Twin Towers spiegeln die Rede von Amerikas Erfolg
und Überlegenheit und Kühnheit, und jeder Mensch, der irgendwann einmal
in New York war, hat sie gesehen, hat die Spitze erklommen mit einem
dieser Tempofahrstühle und sich von oben aus das Panorama des Gebauten,
der Stadt, der American Nature angesehen.

Der Anschlag auf diesen Doppelphallus war, banal gesagt, ein Tritt in
die Eier, der auch auf den Kopf zielte. Insofern war dieser Anschlag
bestens durchdacht: Es ging nicht nur darum, die symbolischen Zentren zu
treffen, sondern auch die der ganz realen Macht.

Ist der reale Terrorakt nicht viel wichtiger als der symbolische?

Natürlich ist der Angriff auf das reale Machtzentrum wichtiger, denn den
symbolischen haben die USA ja längst vorbereitet, im Kino der letzten
zehn Jahre, mit seinem ungeheuren Aufwand an Katastrophenfilmen, wo ja
all diese Gebäude bereits zum Einsturz gebracht wurden. Der
Militärhaushalt der USA hat sich seit Reagan vor allem um die Phantasie
einer Raketenabwehr nach außen gedreht. Von Bush wurde das wieder
aufgenommen, und jetzt kommt darauf eine reale Antwort. Und zwar aus dem
Inneren Amerikas.

Da ist man wahrscheinlich beim Kern dieser Geschichte, beim wirklich
Realen: dass es Leute gibt, die kapiert haben, dass man diese Übermacht
nur mit ihren eigenen Waffen von innen heraus angreifen kann, nämlich
mit dem, was ihre zivilen Stärken sind, die man umfunktioniert in
kriegerische, also aus Flugzeugen Raketen und Bomben macht. Das ist ein
wirklicher Schock, hinter dem alles Symbolische zurücktritt.

Wie wird dieser Schock im Bild verarbeitet? In welcher Weise prägen die
Bilder, die man auf dem Bildschirm sieht, den Psychohaushalt der
Zuschauer?

Sie wirken so, als würden die Leute von den Emotionen, die sie im ersten
Moment hatten, ganz schnell abgeschnitten und anfangen, das in eine Art
Rede zu übersetzen. Diese Rede ist auf eine seltsame Weise vernünftig.
Das wird zum Beispiel deutlich, wenn man die Leserbriefe in den
Zeitungen liest. Die Leute sagen: Der Feind ist der Hass selber, der
Hass muss weg. Oder: Der wahre Horror ist das Spiel mit dem Grauen.
Oder: Gewalt hinterlässt nur zwei Arten von Menschen - Opfer und
zukünftige Opfer. Oder: Das nächste Ziel ist ein AKW. Das alles sind
Reaktionen aus den ersten Stunden nach den Attentaten, die in meinem
Kopf und in den Köpfen derer, mit denen ich geredet habe, aufgetaucht
sind. Und das ist wirklich verrückt. Es denken sozusagen alle dasselbe
in diesem Moment.

Das denkt sich wie zwanghaft, wie von alleine stellt sich das im eigenen
Kopf her, und ich habe mich gefragt: Wer denkt das eigentlich? Denke ich
das? Hat das irgendwas mit meinem Kopf zu tun, oder denkt das durch mich
durch? Ist das etwas, das aus dem weltweiten Nachrichten- und Mediennetz
kommt, von dem wir offenbar Teile sind, ohne es zu realisieren. Denken
wir die Gedanken des Netzes? Hinterlässt der wirkliche Schrecken in den
Körpern vielleicht überhaupt keine Spuren mehr? Selbst die
Feuerwehrleute scheinen bereits Teil dieses Systems geworden zu sein,
wenn sie in die Trümmer rennen und als Erstes eine amerikanische Flagge
in den Schutt pflanzen. Damit sind sie der direkten Geschichte enthoben,
der, dass der eine seinen Bruder sucht, der im 81. Stock war und
vielleicht in den Trümmern liegt. Ähnlich die Jugendlichen, die zum Ort
des Schreckens strömen und die medialen und die realen Bilder übersetzen
in "We shall overcome" und "Give peace a chance" und Kerzen. Das genau
sind Teile eines Spektrums von Reaktionen, die in kulturell vorcodierte
Äußerungen übersetzt sind.

Beschleunigt die Erzählung von der Katastrophe, die die Medien zurzeit
in ihren Bildern zusammenschneiden, einen Prozess der Abstumpfung?

Wenn man genug Katastrophenfilme gesehen und in seinen Bilderhaushalt
eingespeichert hat, sie in Videogames selbst bedient oder durchgespielt
hat, wirkt das natürlich abstumpfend, und zwar in der Weise, dass man
sich mit der Möglichkeit von Katastrophen einrichtet. Man hat sie alle
schon einmal gesehen, geträumt, gelesen, vorgeführt bekommen. Das
Erschrecken vor den realen Bildern hält deswegen bestenfalls ein paar
Tage an.

Verstärkt wird das nun dadurch, dass der Bildschirm einem seit einigen
Tagen die immergleichen Sequenzen gewissermaßen auf die Netzhaut brennt.
Jeder, der fernsieht, hat sie schon hundertfach gesehen. Sie sind
geronnen zu einem Bild, das die Kinobilder jetzt schon weit übertrifft
an Suggestion - und man ist süchtig danach, dass es wieder auftaucht.
Der Horror im Kopf ist dabei fast beseitigt. Man muss sich fast zwingen,
an die Opfer zu denken, das Bild hat sich von ihnen losgelöst und ist
wie eine Pille für die Befriedigung eines Blicks, der sich einerseits
solche Bilder der Zerstörung herbeisehnt, um sich an ihnen zu weiden,
andererseits aber erschrickt, weil in ihnen der nackte Horror steckt.
Beide Gefühle sind echt, sie schließen sich nicht aus. Diese Ambivalenz
entsteht vor dem Fernseher, und man kann sich nicht gegen sie wehren:
Der Genuss ist nicht abtrennbar vom Bild. Das konnte man schon bei den
Bildern vom Golfkrieg feststellen. Wer vorm Fernseher sitzt, kann nicht
anders, als die Bilder in dieser gemischten Affektivität zu erleben. Sie
erklären allem, was man selbst vielleicht denken wollte, genau in der
Weise den Krieg, als sie einem vorschreiben, was abzulaufen hat in
einem. Das könnte man auch beschreiben als die Abschaffung des Subjekts.

Was denkt dieses abgeschaffte Subjekt vor den Bildern? Wird es hier für
den Krieg mobilisiert?

Nicht direkt. Der Mediengebrauch führt eher in die Richtung einer
allgemeinen Pazifizierung. Man ist es inzwischen gewohnt, viele Dinge
nicht mehr selbst auszuagieren, sondern sie erledigen zu lassen. Man
nimmt sie visuell auf und ist dadurch Teil der Aktion. Die Mehrheit der
Bevölkerungen des Westens sind heute friedlicher als früher, es gibt
weniger Leute, die denken, dass man in bestimmten Situationen mal
draufhauen müsste.

Dass die Menschen lieber keinen Krieg wollen und scheinbar vernünftig
reden, hat mit dieser medialen Bearbeitung zu tun. Was natürlich
überhaupt nicht heißt, dass man von diesen pazifizierten Zuschauern
wirklich eine Widerstandkraft erwarten kann, wenn es plötzlich heißt:
Jetzt wird Krieg gemacht. Ich glaube, das würde in einer ähnlichen Weise
pazifiziert hingenommen werden. Schon in Jugoslawien hat das ja
funktioniert: Die meisten haben ihn hingenommen, aber nicht gejubelt:
Ja, wir wollen Krieg! Das ist eine Form von Ruhigstellung.

Wird sich das in der momentanen Situation wiederholen? Oder besteht die
Chance, dass sich die moderaten Stimmen, die zurzeit ja auch zu hören
sind, gegen diese Ruhigstellung durchsetzen werden?

Im Anblick des Horrors mehren sich die Stimmen, die keine Vergeltung
wollen, sondern andere Lösungen. Sie sagen: Wir müssen die Nahostpolitik
überdenken. Der Anschlag war kein blindwütiger Akt, sondern ein
geplanter. Und geplante Akte haben Vorläufer im Denken. Das passiert
nicht ohne Grund. Der Anschlag hätte nicht stattgefunden, wenn die USA
im Nahen Osten nicht dieses Vakuum hätten entstehen lassen. Wenn Bush
versucht hätte, den Friedensprozess fortzusetzen. Aber Bush hat nichts
nachgeschoben, er hat sich aus der Region völlig zurückgezogen. Doch wo
man ein Vakuum lässt, strömt Gewalt ein, überlässt man Terroristen und
Fanatikern die Szene.

An solchen Äußerungen sieht man, dass dieser Anschlag also durchaus vor
dem Hintergrund eines Versagens der amerikanischen Politik diskutiert
werden kann. Der Gewaltseite der Israelis wurde freie Hand gelassen.
Auch dann noch, als sie ankündigten, mit der Liquidierung einzelner
namentlich bekannter Terroristen zu beginnen. Jeder vernünftige Mensch
hätte da sofort sagen müssen, dass den bekannten Zielpersonen im
nächsten Moment zwanzig Unbekannte folgen werden. Und genau das ist
eingetreten. Mit Selbstmordanschlägen auf Busse oder Pizzerien. Die
Frage, die sich jetzt stellt, muss lauten: Wird der Anschlag auf die
Twin Towers und das Pentagon den Westen dazu bewegen, seine Politik zu
ändern? Werden die USA Israel jetzt dazu zwingen, die besiedelten
Gebiete freizugeben, um dort einen palästinensischen Staat einzurichten?
Wenn die Amerikaner nicht verrückt sind und glauben, sie könnten mit
erhöhtem Bombenabwurf, irgendwo drauf, alles wieder ins Lot bringen,
dann wird dieser Anschlag langfristig den Erfolg haben, dass das
Israel-Palästina-Problem in dieser Weise entschärft wird.

Das aber setzt voraus, dass der Westen selbst erkennen würde, dass
dieser Terroranschlag gar keine Kriegserklärung war und deswegen auch
nicht mit kriegerischen Mitteln beantwortet werden kann. Ist das
überhaupt denkbar?

Strike back ist von frühesten Besiedlungszeiten an ein amerikanisches
Muss: Es muss zurückgeschlagen werden. Wenn das nicht passiert, dann
bleibt ein ungeheures Loch in der Psyche dieses Landes. Entscheidend ist
aber, was danach passiert. Wie wird Amerika die Situation langfristig
verarbeiten? Werden in jedem Flugzeug Panzertüren vor die Cockpits
geschraubt?

Ich denke, das wäre die Idiotenlösung: das ganze Land von innen zu
panzern und zu glauben, damit ließe sich etwas in den Griff bekommen.
Man wird jeden Araber, der in die Staaten einreisen will, zigfach
filzen, abchecken, rastern, aber was soll der Blödsinn? Es werden sich
Nichtaraber finden, Leute aus anderen Teilen der Welt, die
Terroranschläge dieser Art ausführen. Das Personal, um solche Attentate
zu verüben, ist unbegrenzt. Statt Horrorszenarien weiterzudenken, sollte
man zu der Einsicht kommen, dass es Kräfte hinter diesem Anschlag gibt,
die nicht völlig wahnsinnig sind, sondern dass es Gründe für ihr Handeln
gibt. Deshalb muss man die Krisenherde entschärfen. Man muss weiter
reden. Solange geredet wird, fallen keine Bomben. Wenn ein Gespräch
scheitert, muss man das nächste anfangen. Und wenn man das nicht in Gang
hält, dann entsteht genau das Vakuum, in das Gewalt strömt. Das ist ein
Energiegesetz der Politik.

Vergrößert sich dieses Vakuum momentan nicht? Immerhin sprach
Bundeskanzler Schröder von einem "Angriff auf die Zivilisation".

Mit solchen Worten ist im Grunde genau der Kern des Konfliktes benannt,
aus dem heraus solche Attentate verübt werden. Araber in Europa und
Amerika berufen sich immer wieder auf die arabische Kultur, die immerhin
ein paar tausend Jahre älter ist als die europäische und amerikanische.
Doch was im arabischen Raum an Kultur und Zivilisation entstanden ist,
will bei uns niemand mehr wirklich wissen. Weil das alles von der Rede
vom islamischen Fundamentalismus verdrängt wird, mit dem der Islam
mittlerweile identifiziert wird. Auch wenn reihenweise Muslime sagen:
Wir haben damit nichts zu tun, wir sind friedfertige Leute und wollen
keinen heiligen Krieg, wir sind zivilisiert. Das aber leugnet Schröders
Rede vom Angriff auf die zivilisierte Welt. Das ist fundamentalistische
westliche Kriegshetze. Und genau gegen diese Rede fliegen die Flugzeuge
in die Towers.

Was als Antwort aus diesem Anschlag hätte folgen müssen, wäre das
Gegenteil gewesen: Wir verbünden uns mit den zivilisierten Kräften der
Welt, auch der arabischen, und wollen gemeinsam etwas gegen die
Menschenverachtung der Leute tun, die Anschläge wie den auf das World
Trade Center verüben. Nichts hätte Schröder daran gehindert, trotzdem,
wie er sagt, fest an der Seite unserer amerikanischen Freunde zu stehen.

In diesem Punkt entlarvt sich die westliche Zivilisation: Heute beklagt
sie den Angriff auf die zivilisierte Welt, und was tut diese am nächsten
Tag? Sie liefert wieder eine Fuhre Waffen in eine Ecke der Welt, die sie
für unzivilisiert erklärt. An der eigenen Zivilisiertheit ändert das
nichts. Und wenn die Waffen alle verschossen sind - auf dem Balkan oder
in Afghanistan -, kommt die zivilisierte Welt und gibt ihnen die nächste
Ladung. Zivilisation bedeutet offenbar, andere sich untereinander
bombardieren zu lassen und selbst an den Waffen zu verdienen.

Vom Westen wird Zivilisation gerne in Zusammenhang mit Vernunft gedacht,
was seine Gegner zwangsläufig zu Protagonisten der Unvernunft, des Irren
macht. Zeigt sich der Westen nicht selbst gerade von seiner irren Seite?

Sicher. Es ist nicht nur der Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei,
der hier phantasiert wird, sondern auch gegen angeblich heillos
krankhafte Teile der Dritten Welt, wie sie im Westen immer noch heißt,
wobei es für jeden Araber selbstverständlich ist, dass er in der Ersten
lebt. Vollkommen zu Recht. Was dabei gerne übersehen wird, ist, dass
ausgerechnet jemand wie Bush die Wahlen nur mit den Stimmen aus dem
Bible Belt gewinnen konnte: den Stimmen von fundamentalistischen
Amerikanern, von religiösen Fanatikern, die all das wieder abschaffen
wollen, was sich in Bill Clintons Amtszeit gelockert hat.

Ihre Gleichsetzung des Islam mit einem Fundamentalismus, der zum
Selbstmordattentat führt, verweist direkt zurück ins Herz von Amerika.
Dort gibt es genau denselben religiösen Wahn, aus dem heraus sie alles
angreifen, was ihre Kultur lockern oder weltweit zu Entspannung führen
könnte. Bush zeigt sich als Ausführender solcher Phantasien und wundert
sich dann, wenn aus anderen Teilen der Welt diese religiös-bewaffneten
Antworten zurückkommen.

taz Nr. 6553 vom 19.9.2001, Seite 13-14, 471 Interview, JÜRGEN REUSS /
DIETER RÖSCHMANN

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