savadee kimberlain on Wed, 30 Oct 2002 15:05:09 +0100 (CET)


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[rohrpost] Fwd: im bett mit suhrkamp



... ein nachruf anderer art -- enjoy! ;)

savadee


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Im Bett mit suhrkamp
Das textuelle Leben der Gisela Star

Sonntag im Zug von Weimar nach München. Der Zug hat Verspätung 
versteht sich. Ein Sturm tobt über Deutschland. Kurz vor Nürnberg, 
ich spähe durch den Schlitz im Sitz zu meinem Vordermann, der hat ein 
Buch in der Hand, so ein blaues Taschenbuch, so eines von suhrkamp. 
Ich kann den Titel nicht erkennen, denke noch, hm, denke, suhrkamp, 
denke: Ein ganzes Universum.
Mein Vordermann steigt in Nürnberg aus, eine alte Frau steigt ein. 
Sie schlägt die Zeitung auf, ich spähe wieder durch den Sitz, da sehe 
ich die Schlagzeile. Unseld tot.

Ich fange noch mal an. Zwei Brüder, es war einmal, der eine hatte die 
coolen Freunde, der andere die guten Bücher, die kleine Schwester 
ich. Ich mag meine Brüder sehr. In die Freunde des einen habe ich 
mich unglücklich verliebt, die Bücher hat der andere mir stückweise 
geliehen. Wir sind im guten Glauben erzogen, römisch-katholisch, um 
genau zu sein. Dies ist mein Leib. Bei den Taschenbüchern hatte ich 
immer Angst, dass der Buchrücken knickt, habe sie vorsichtig in 
meinem Bett aufs Kreuz gelegt. Missionarsstellung. So wurde ich 
bekehrt. Dann wurde ich magersüchtig, denn ich hatte großen Hunger. 
Meinen Wissensdurst jedoch haben sie über die Jahre gestillt.

Noch mal. Vor Weimar Leipzig. In Leipzig wohnt mein Bruder mit seiner 
Frau, seinen Kindern und seiner Bibliothek. Dort steht, in 
alphabetischer Ordnung, aufrecht, begehrenswert, Seite an Seite, für 
jeden diesen Besitz zu bewundern: Das ganze suhrkamp Universum. A - 
Z. Ich hatte auch große Lust, und habe sie noch. Und große Lust zu 
schreien. Aber in Bibliotheken schreit man nicht, schon gar nicht vor 
Lust. Oder Schmerz. In Bibliotheken heißt es schweigen. So wurde ich 
also gestillt. So wurde ich sozialisiert. Ich = männlich, westlich, 
heterosexuell. Auf meinen Lippen die Ausdünstungen alter Männer. 
Meine Schmerzen sind die Phantomschmerzen der potentiell 
Penisamputierten.

Und deshalb fange ich wieder an. Seit einiger Zeit habe ich keine 
Kastrationsängste mehr. Und natürlich bin ich bis heute sexuell 
besetzt von meinen beiden Brüdern. Ich bin auch sexuell besetzt von 
Adorno, von Bernhard, Beckett, Benjamin, Brecht und Ulrich Beck, von 
Celan, von Derrida, Elias, Eco, Enzensberger, von Foucault, früh 
schon von Frisch, von Garcia Lorca, Habermas, Hesse, Hein, Horvath 
und Hörisch, von Johnson, Jonas, von Kant ohlala, von Levi-Strauss, 
Luhmann, Marcuse und G. H. Mead, von Neumeister und Ostermeier, 
peinlich, von Robbe-Grillet, von Simmel, und so weiter, viele mehr, 
Walser M. und R., sexuell besetzt selbst von Wittgenstein.

So anfangen! Ich bin meine Welt. So sehen! Dass alles, was wir sehen 
auch anders sein könnte, und alles was wir überhaupt beschreiben 
können, auch anders sein könnte. Dass dies der Fall sein könnte. Ach! 
Doch bin ich nur Gast in dieser Welt, in diesem Universum. Ich bin 
das schwarze Loch. Ich falle unentwegt. Mein Point of View ist der 
zwischen den Stühlen hindurch, mein Standpunkt grund- und bodenlos. 
Ich bin die Diskursmasse, im Nachlass nicht enthalten.

Das Dunkel kennt sich nicht
Es fragt auch nicht
Es ist eine Faust in einer Faust
Die niemand sieht. Meret Oppenheim. Verlegt bei suhrkamp.

Am Anfang immer das Wort. Und dann die Welt, und dann einige wenige, 
die Recht haben und Macht haben und das Sagen haben und die 
Definitions- und die Distributionsgewalt. Die Welt der Opfer und 
Täter. Ich bin hier geboren, da komme ich her, das ist meine Welt. Da 
hat man mich benannt und beschrieben und umschrieben, mir Worte in 
den Mund gelegt, damit ich nichts mehr sagen kann. Nichts anderes als 
das ganze Universum samt all seinen Synonymen. Nenn' es Abendland, 
nenn' es Aufklärung, Moderne, zweiter, dritter Ordnung, nenn' es 
Marlboro Country, Home of the Brave, Home of the Free. Meine 
sogenannte geistige Heimat. Und drüben im Morgenland die 
Scheherazade. Ihr Typ, ein stinkreicher Ölscheich, hat sie aufs Bett 
geschnallt und verhökert jetzt Hardpornovideos, X-rated, worldwide.

Oder um anders anzufangen: Ich schnappe mir eins der billigen 
Pseudonyme - was bleibt auch sonst übrig - hefte es in mein 
Dekolleté. Rechts und links davon, hört hört!, eine erigierte 
Brustwarze. Ich bin geschmacklos, ich weiß. Deshalb darf ich auch in 
keinem der Elfenbeintürme wohnen. Nur zu Besuch darf ich gelegentlich 
reinschauen. Leute wie ich werden dann gerne verrückt. Oder sterben 
beliebterweise jung, an Leib und Seele geschändet. Über 70% der 
Borderline-Patienten seien weiblich, sagt mein Bruder, der Psychologe 
aus Leipzig. Ich will mich nicht verrückt werden lassen. Ich will 
auch nicht schon zum Ende kommen.

Ich fange einfach an. Ich stehe im prallen Mittagssonnenlicht, jemand 
hat mir eine Waffe in die Hand gedrückt. Blow job. Eine Waffe für A, 
B bis Z Schützen. You're the one with the finger on the trigger for 
the things to come. Schieß doch endlich, schieß doch! Jag das ganze 
Universum in die Luft, los! Trau dich! Ich aber will das alles nicht. 
Ich aber will fragen, will meine Hand nicht zur Faust ballen müssen. 
Seht ihr? Und so stehe ich vor der Bücherwand meines Bruders. Ein 
kleiner geiler Stern im großen Universum. Eine von den vielen. Lasst 
Blumen sprechen. Ich war ein Mädchen. Auf meine Unschuld pfeif ich 
aus allen Löchern. Das ist das Problem.

gi*

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