Florian Cramer on Mon, 13 Jan 2003 14:10:13 +0100 (CET) |
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Re: [rohrpost] Workshop Freie Software |
Am Sonntag, 12. Januar 2003 um 23:32:15 Uhr (+0100) schrieb Henning Ziegler: > Bei manchen Mailings über freie Software, z.B. denen von Alvar, habe > ich jetzt ein wenig Problembewusstsein vermisst über die Tatsache, > dass "freie" Software immer von gesellschaftlich/politisch eventuell > doch unfreien, durch Machtstrukturen gebundenen Menschen produziert > wird. Für welche freie Arbeit bzw. öffentliche Resource (einschließlich des Internet und der Kunstwerke, deren Copyright abgelaufen ist) gilt dies nicht? > Laut FLOSS-Studie hauptsächlich von gestandenen Programmierern, die in ihrer > Freizeit 3 Stunden pro Woche herumbasteln. Außerdem müsste noch > "freie" Hardware existieren, da sind wir dann wieder beim Problem vom > freien Auto oder vom sozialistischen Klo. Software ist im Gegensatz zu Hardware ein immaterielles Gut, das unbegrenzt und fast kostenlos reproduzierbar ist. Wird sie als Ware verkauft, so muß sie künstlich verknappt und (z.B. durch Vorenthaltung des Quellcodes) proprietarisiert werden. Proprietär implementierte Software aber verhindert, ab einem bestimmten Komplexitätsgrad, eine gesunde kapitalistische Konkurrenz, weil mit jedem Konkurrenzprodukt das Rad von Neuem erfunden, sprich: der Code von Null auf neugeschrieben werden muß. Man kann nicht, wie sonst bei jedem materiellen Erzeugnis von der Axt bis zur Boeing, die Bauteile auseinandernehmen, die Konstruktion studieren und auf dieser Basis zunächst eine "getunte" Modifikation des Originals und später ein eigenständiges Produkt schaffen. Weil der Aufwand, z.B. ein vollwertiges Konkurrenzprodukt zu Microsoft Office zu schreiben, für kommerzielle Hersteller zu hoch und zu riskant ist, gibt es praktisch keine Alternativen in diesem Marktsegment, abgesehen von denen, die noch vor dem kommerziellen Durchbruch von MS Office entwickelt wurden (WordPerfect, Ami/Lotus SmartSuite und StarOffice) und durch das MS-Monopol nun zu Nischenprodukten geworden sind. Durch die Software-spezifische Dualität von Quell- und Binärcode gibt es ferner, im Gegensatz etwa zu den Werken Kafkas, den Partituren Bachs oder den Schaltplänen eines Transistorradios, keinen Automatismus, daß Software, deren Urheberrecht abgelaufen ist, in sinnvoll nutzbarer Weise in die Öffentlichkeit (bzw. in die "public domain") übergeht. Historische Computerspiele, von denen es keinen öffentlichen Quellcode gibt, und die deshalb, wenn überhaupt, nur mühsam durch Emulation zum Laufen gebracht werden können, sind ein gutes Beispiel. Um also auf Deine Einwände zurückzukommen: Es gibt freie Hardware. Niemand erhebt z.B. ein Copyright auf die Erfindung bzw. das Design eines gewöhnlichen Hammers. Selbst für den Selbstbau eines Transistorenradios fallen keine Lizenzgebühren oder patentrechtlichen Einschränkungen an; es gibt genug freie Schaltpläne, die man beliebig kopieren und in Endprodukte umsetzen kann. Sogar einen PC kann man mit geringen technischen Kenntnissen modifizieren oder sich aus Standardkomponenten selbst zusammenschrauben. Natürlich heißt "frei" nicht anders als auch bei freier Software nicht kostenlos, sondern frei von Nutzungsbeschränkungen (etwa eines Datenbankservers auf fünf Benutzer im Netzwerk, oder einer beliebigen anderen Software nur für den privaten, nichtkommerziellen Gebrauch), sowie frei im Sinne von öffentlichem Wissen. Daß "Freie Software" etwas mit Gratissoftware zu tun habe oder mit einem Freiheitsversprechen für ihre Programmierer, wird selbst von der Free Software Foundation nachdrücklich dementiert. Die GPL z.B. schränkt die Freiheit der Entwickler ein - die Option nämlich, ein Programm proprietär zu vermarkten -, um die Freiheit der Nutzung sicherzustellen. Um von dieser abstrakten Ebene zurück auf die konkrete Nutzung freier Software zurückzukommen: Die freien BSDs, GNU und Linux entstanden an Universitäten (vor allem dem MIT, der UC Berkeley und der Technischen Universität Helsinki) mit dem Ziel, nicht-proprietäre, voll kompatible Clones des Betriebssystems Unix zu schaffen, die auf gängiger Computer-Hardware einschließlich Heim-PCs laufen sollten. Dieses Ziel wurde erreicht. Und zwar so gut, daß *BSD und GNU/Linux heute den de facto-Standard von Unix definieren und sie die kommerziellen Unices (Solaris, AIX, True64, HP/UX, Irix) von den Workstations und nun auch von den Servern verdrängen. Außerdem bilden sie den Software-Unterbau bzw. die Entwicklungsplattformen kommerzieller Betriebssysteme und von Embedded-Systemen wie z.B. MacOS X, LAN-Routern und -switches, PDAs (Sharp Zaurus), Spielkonsolen (der unter Linux entwickelten Playstation 2) und digitalen Videorecordern. BSD, GNU und Linux wurden nicht als GUI-Desktop-Betriebssysteme geschrieben, die Windows oder MacOS ersetzen sollten. Die Idee, freie Windows-Alternativen auf der Basis freier Unix-Clones zu schaffen, kam vergleichsweise spät auf, nämlich zwischen 1996 und 1997 mit den Projekten KDE und Gnome. Auch wenn Apple derzeit zeigt, daß man ein Unix-basiertes Desktop-Betriebssystem auf einen Massenmarkt stemmen kann, bin ich skeptisch, ob MacOS X seine Zielgruppe glücklich machen wird. Die technischen Vorteile des Mach/BSD-Unterbaus gegenüber dem alten MacOS - Speicherschutz, präemptives Multitasking, Nutzerkonten und Dateirechte, bessere Netzwerkfunktionen - werden durch den Nachteil erkauft, daß Inhalt und Struktur des Dateisystems und die Funktion von Systemprogrammen für Nutzer ohne Unix-Expertise nicht mehr nachvollziehbar sind, und ein böswilliger Unix-Kenner auf der MacOS X-Kommandozeile (bzw. ein externer Angreifer, der durch eines der periodisch auftretenden Sicherheitslöcher von auch unter MacOS X aktiven Unix-Netzwerkdiensten - wie z.B. cups und OpenSSH - schlüpft) Unheil anrichten kann, das kein Laie zu reparieren vermag. Demgegenüber war das alte MacOS durch Simplizität robust; man konnte nie soviel Unheil anrichten, daß es nicht mehr startete, und mangels aktiver TCP/IP-Dienste und eines Shell-Logins über Netzwerk war es praktisch nicht zu hacken. Die Versuche Freier Software für Anwender, die nur unter graphischen Desktops arbeiten, sind also relativ jung und kranken daran, daß sie auf Betriebssysteme aufsatteln, die nicht vom Desktop her konzipiert wurden. Wenn man Unix unter Verdrehung der historischen Tatsachen ein "DOS on steroids" nennt, ist der Vergleich der heutigen freien Desktops mit den ersten Windows-Versionen nicht ganz falsch: Windows 3.x konnte man auch nicht sorglos ohne DOS-Kenntnisse nutzen, das Softwareangebot war lückenhaft und das Nutzer-Interface inkonsistent. So, wie sich Microsoft entschloß, sein Betriebssystem von der graphischen Oberfläche her neu zu denken und schrittweise vom DOS-Unterbau abzulösen, müßte ein freies, laienadministrierbares Betriebssystem für nichttechnische Desktop-Benutzer sich ebenfalls eine neue Softwareschicht oberhalb des Kernels (d.h. ein neues "Userland") und eine neue Namens- und Ordnungsstruktur des Dateisystems verpassen. Das Ergebnis könnte dann z.B. dem alten MacOS ähneln. - Das bisher fortgeschrittenste Projekt dieser Art ist AtheOS <http://www.atheos.cx>, gefolgt vom Versuch einer freien Neuimplementation des BeOS <http://www.openbeos.org>. - Schon die freie Neuimplementation von Unix hat, je nach Zeitrechnung, zehn Jahre gedauert, nämlich von der Gründung des GNU-Projekts 1984 bis zum Linux-Kernel 1.09 im September 1994, oder sogar 17 Jahre, wenn man Bill Joys erste "Berkeley System Distribution" (BSD) von 1977 hinzuzählt. Für letzteres spricht, daß auch der Linux-Kernel und jede sogenannte Linux-Distribution reichlich BSD-Code enthält. Auch wenn die Massenverbreitung des Internets und das größere öffentliche Interesse freie Softwareentwicklung heute beschleunigt, würde die Entwicklung eines vollständig freien Desktop-Betriebssystems einschließlich aller Anwendungssoftware bestimmt nicht weniger Zeit beanspruchen. Anders als bei BSD, GNU und Linux hätten jedoch universitäre Informatikinstitute wenig Interesse daran, solch ein Betriebssystem mitzuentwickeln bzw. über Seminarschein- und Diplom-Aufgaben indirekt zu sponsern. Also müßten die künftigen Nutzer es selbst finanzieren. Privatleute müßten Spenden aufbringen, um Entwickler für die Arbeit an bestimmter freier Software zu bezahlen. Dabei könnte man sich das GNU-Projekt zum Vorbild nehmen, dessen Anwendersoftware zunächst nur auf proprietären Betriebssystemen genutzt werden konnte und erst spät, zusammen mit dem Linux-Kernel, ein selbstlaufendes freies System ergab. Nicht nur Universitäten, auch Behörden, Regierungen und Unternehmen würden als Sponsoren solch eines Desktop-Betriebssystems wahrscheinlich ausfallen. Denn die jetzige Kombination von Kommandozeilen-administrierbarem Unix-Unterbau und Desktop-Überbau ist bereits ideal für ihre Einsatzgebiete: große, professionell administrierte Rechnernetzwerke mit komplexer Nutzerverwaltung und komplexen Anbindungen an Domain-, Druck-, Mail- und Datenbankserver. Hinzu kommt, daß die meisten freien Entwickler und, um Dich (Henning) zu zitieren, "Frickler" kein Eigeninteresse an einem System haben, dessen Interna nicht für die Bedienung per Shellkommandos, Pipes und Scripting ausgelegt sind [*]. Da Freie Software ein Geschenk ihrer Programmierer an die Allgemeinheit ist, kann man Ansprüche an sie unweigerlich nur dann stellen, wenn man sie mitschreibt oder bezahlt. -F [*] Das würde schon damit anfangen, daß man "/etc" laien- und anklickfreundlich, aber tastaturfeindlich in "Voreinstellungen" umbenennt... -- http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/homepage/ http://www.complit.fu-berlin.de/institut/lehrpersonal/cramer.html GnuPG/PGP public key ID 3200C7BA, finger cantsin@mail.zedat.fu-berlin.de ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.openoffice.de/pipermail/rohrpost/ Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/