Martin Lindner on Fri, 27 Jun 2003 13:53:40 +0200 (CEST) |
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[rohrpost] def. medien und medienwissenschaft (nurfür hardcore-akademiker) |
hallo, es ist wahrscheinlich uncool, aber ich würde gern den folgenden eher umfangreichen definitionsvorschlag für "medien" und "medienwissenschaft" zur diskussion stellen. herzlichen gruß martin lindner --- (martin.lindner@uibk.ac.at) Diskussionspapier zu einer exakten Definition von "Medien" als Voraussetzung für eine nicht-eklektizistische Medienwissenschaft (0) Medienwissenschaft ist nicht gleichbedeutend mit der Summe aller wissenschaftlichen Aktivitäten, die das empirische Feld der "Medien" erforschen. Gegenstand der Medienwissenschaft ist das Eigentümliche der "Medien", das andere Wissenschaften nicht erfassen: das "Mediale" an "die Medien", ihr spezifischer systemischer Zusammenhang und ihre spezifischen Wechselwirkungen, ihre Binnenlogik und Eigendynamik auf allen Ebenen: technisch, sozial/gesellschaftlich, semiotisch/"sprachlich", kulturell. (0.1) Man muss also streng unterscheiden zwischen Medienwissenschaft im engen und exakten Sinn und sonstiger fachwissenschaftlicher Behandlung von Themen/Gegenständen aus dem Bereich "Medien" (z.B. die linguistische Untersuchung von "Textsorten" im Internet, die soziologische Untersuchung von Vorgängen in Zeitungsredaktionen usw.). (0.2) Natürlich sind solche Forschungsaktivitäten grundsätzlich legitim und potentiell auch für die erst im Entstehen begriffene Medienwissenschaft fruchtbar. Selbstverständlich gibt es Übergänge und Anschlüsse: Die Soziologie (die Linguistik, die Literaturwissenschaft, die Informatik u.v.a.) stellt dann der Medienwissenschaft Resultate zur Verfügung, die diese in das Gesamtbild der "Medien" (der "Mediengesellschaft", der "Medienkultur" ...) einordnet. Umgekehrt stellt die Medienwissenschaft den anderen Disziplinen ihre spezifischen Analysen und Theorien zur Verfügung, die den Zusammenhang und die Wechselwirkungen, die Binnenlogik und die Eigendynamik der "Medien" betreffen. (1) Gegenstand der Medienwissenschaft ist nicht "das Medium", sondern "die Medien". Ausgangspunkt ist der Sinn, in dem wir den Begriff seit ca. 40 Jahren vorwissenschaftlich verwenden, um eine grundlegende Veränderung unserer Lebenswelt zu bezeichnen. Ihr Kernsatz ist "The Medium Is the Message." (1.1) Die Wissenschaft, die "die Medien" fokussiert, untersucht in erster Linie die gegenwärtige Struktur und den historischen Wandel der Medien-Konstellationen im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Zeichen und Botschaften, d.h. seit etwa 1850. (1.2) Sie geht dabei aus von der Tatsache, dass der Leitbegriff "Medien" nicht nur zum Signum unserer Epoche geworden ist, sondern tatsächlich den Schlüssel zum kritischen Verständnis unserer Lebenswelt darstellt, wenn man von der paradoxen Verselbständigung ausgeht, die der Begriff selbst bereits in seiner üblichen Verwendung enthält: "The Medium Is the Message" heißt dann (über McLuhans idiosynkratische Deutung hinausgehend), dass wir im Zeitalter von "die Medien" leben und überhaupt erst von "Medien" sprechen, seit es unabweisbar geworden ist, dass "Medien" noch etwas anderes tun als zu "vermitteln" bzw. "Botschaften zu übertragen". (1.3) Medien sind demnach nicht (bzw. nicht mehr) im Rahmen einer herkömmlichen Theorie von "Kommunikation" als bloße Werkzeuge und Vermittlungsinstanzen adäquat zu erfassen, die "Botschaften" gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Akteure zum "Rezipienten" transportieren, sondern als Medienkonstellationen, die komplexe Medienräume, besondere "Subjektstellen" (Foucault) und letztlich umfassende Lebenswelten schaffen. "Medienwissenschaft" im eigentlichen Sinn entsteht genau an dem systematischen und historischen Punkt, an dem die herkömmliche "Kommunikationswissenschaft" versagt (die selbst erst seit ca. 1960 besteht und die sich als "empirische Sozialwissenschaft" von Serndern, Empfängern, Kanälen, Botschaften usw. begreift). (1.4) "Die Medien" in diesem engeren Sinn entstehen zuerst technisch-phänomenologisch (seit ca. 1850, wirklich wirksam erst seit ca. 1900) und dann (seit den 1950er Jahren) auch als Begriff genau da, wo die fundamentale Differenz zur "Gutenberg-Galaxis" deutlich hervortritt. (1.5) Im Rückblick lässt sich nun die Gutenberg-Galaxis ebenfalls als "Medienkonstellation" analysieren. Genau genommen als Zusammenspiel von mehreren Medienkonstellationen: ?Druckschrift/Autorschaft-Redaktion/Verlag-Buchhandel/gebildete Öffentlichkeit', Druckbild/["kollektive" Autorschaft]/Verlag-Buchhandel/nicht-gebildete Öffentlichkeit' und ?Handschrift/privat-intime Subjektivität/Post/'bürgerlich-semiprivate Halböffentlichkeit'. Und da gibt es wieder komplexe kulturhistorische und kulturell-regionale Unterschiede ... (1.6) Wenn man die "bürgerliche Neuzeit" mit Hilfe des "Medien"-Begriffs als "Gutenberg-Galaxis" begreift, muss man sich im Klaren sein, dass hier fundamentale Grenzen zwischen einem engeren Medien-Begriff und weiteren Medienbegriffen gesetzt sind. So muss die (im weiteren Sinn) "medienhistorische Epoche" zwischen 1500/1900 scharf getrennt werden von der "Epoche der Medien" (im engeren Sinn), die um 1900 wirklich einsetzt. (Und es gibt Indizien, dass um 1980 der Beginn einer neuen "Epoche der Medien" anzusetzen ist). (1.7) Im Rahmen dieser Grenzziehung zwischen medienhistorischen Epochen sind die spätbürgerlichen Verlängerungen der Gutenberg-Galaxis ins 20. Jahrhundert hinein wiederum ein besonderer Fall: Im Jahrhundert der neuen "Medienkonkurrenzen" und im übrigen auch neuer Drucktechniken sind wieder andere Medienkonstellationen anzusetzen, die fundamentale Auswirkungen etwa auf "Autorschaft" und "Öffentlichkeit" haben. (1.8) Mindestens ebenso sehr muss auf dieser scharfen Grenzziehung bestanden werden, wenn man den "Medien"-Begriff auf "orale Kulturen" und "orale Medienkonstellationen" bzw. wenn man umgekehrt Schlüsselbegriffe für die Analyse solcher Kulturen (insbesondere "Mythos") auf die "neue ("sekundäre") orale Medienkultur" überträgt. Das bedeutet nicht, dass solche Übertragungen illegitim und unfruchtbar sind - eher im Gegenteil, aber eben erst unter der Voraussetzung, dass die spezifische Differenz von Anfang an mitreflektiert wird. (2.) Das "Wesen des Mediums" gibt es nicht. Insbesondere ist die Rede im Singular ("das Medium") theoretisch streng genommen sinnlos und irreführend. (2.1) Falsch ist im medienwissenschaftlichen Zusammenhang ein Satz wie: "Der Fernseher (das Buch, die Luft, die Post, die Schrift, das Bild, das Foto, der Computer ...) ist ein Medium." (2.2) Alltagssprachlich kann man natürlich davon reden, dass z.B. "das Fernsehen" ein Medium ist, dass "e-mail mein Medium ist", dass der Bundeskanzler sich des Mediums "Fernsehen" "bedient", usw. Aber auch wenn das im Einzelfall metonymisch den ganzen Zusammenhang, die "Medienkonstellation", mitmeinen kann, ist das kein medienwissenschaftlich sinnvoller Wortgebrauch: Denn das Interessante und Problematische, eben das "Mediale" an "die Medien", besteht gerade in dem, was sich nicht über das scheinbar "Greifbare" (Objekte wie "das Buch", technische Apparate wie "der Fernseher", soziale Apparaturen wie "die Post" ...) erschließt. Und auch die metonymische Abkürzung ist nie unschuldig und immer irreführend. (2.3) Etymologisch ist "Medium" das Vermittelnde. Das Unangenehme am Begriff "Medienwissenschaft" ist nun, dass die Eigenart von "die Medien", die inzwischen unabweisbar eine eigene Wissenschaft nötig macht, gerade darin besteht, dass "die Medien" zunehmend und vielleicht vor allem etwas anderes tun als zu "vermitteln". (2.4) Wenn man keinen Kunstbegriff einführen will (was wenig Chancen hätte), muss die Medienwissenschaft nun also mit Nachdruck und immer von Neuem auf den scharfen Grenzen zwischen den verschiedenen Verwendungen des Begriffs "Medien" bestehen. Das ist mühsam und unpopulär, hat aber den Vorteil, dass damit gleichzeitig der Begriff immer neu geschärft wird. (2.5) In einem ersten Schritt muss der neue Begriff der "Medien" abgegrenzt werden gegen den orthodoxen Begriff der "Massenmedien", der sowohl einen problematischen Begriff von "Masse" als auch von "Kommunikation" einschließt, aber bezeichnenderweise eben keinen theoretisch scharfen Begriff von "Medien". (Der Begriff gilt in der Kommunikationswissenschaft als unproblematisch und wird als bloßes Etikett verwendet für "die Presse", "das Radio" und "das Fernsehen". Wenn man einen theoretischen Begriff an dieser systematischen Stelle benötigt, wird von "Kanälen" gesprochen.) (2.5) Nötig ist dann, in einem zweiten Schritt sämtliche etymologischen und lexikalischen Kurzschlüsse und damit alle gern gebrauchten Taschenspielertricks auszuschließen: das Wasser, in dem der Fisch schwimmt, "die Sprache", das Orakel von Delphi bzw. ein spiritistisches "Medium" ... sind "Medium" in einem fundamental anderen Sinn. (2.6) Dasselbe gilt für künstliche Begriffsbildungen anderer Wissenschaften, wie z.B. insbesondere die abstrakten Medienbegriffe von Niklas Luhmann ("Medium vs. Form", "symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien") oder auch die ausgeweiteten Medienbegriffe, die Literaturwissenschaftler gerne einführen (prominent z.B. Hörisch, für den u.a. die Hostie und die CD-ROM gleichermaßen "Medium" sind). (2.7) Diese Abgrenzungen und Ausschlüsse bedeuten nicht, dass all diese Begriffe und Begriffsverwendungen nichts mit dem Phänomen "die Medien" zu tun haben: Insbesondere ist natürlich die Systemtheorie der Luhmann-Schule (aber auch der erweiterte literaturwissenschaftlichen Medienbegriff) in hohem Maß relevant auch für die Medienwissenschaft. Aber diese Zusammenhänge wären erst ausgehend von einer scharfen wissenschaftlichen Analyse von "die Medien" Schritt für Schritt zu rekonstruieren. Man gelangt auf diese Weise zu einem übergreifenden kulturwissenschaftlichen Begriff "des Medialen", der vermutlich notwendig und fruchtbar sein könnte - aber erst dann, wenn er nicht mehr immer neue rhetorische Kurzschlüsse und Kunststücke erzeugt. (Hier wurzelt im übrigen das durchaus nachvollziehbare Misstrauen der Vertreter des ökonomisch-naturwissenschaftlich geprägten Mainstreams gegenüber den Ansprüchen der real existierenden, allzu schillernden und allzu fragmentarisierten "Medienwissenschaft".) (3.) Um die beschriebenen Schwierigkeiten zu minimieren, ist also eine Definition von "die Medien" erforderlich, die als Grundlage einer exakten und transdisziplinär anschlussfähigen "Medienwissenschaft" dienen kann und die möglichst keine weitreichenden Vorentscheidungen über "Medienphilosophien" trifft. [Das Folgende ist natürlich lediglich als Diskussionsgrundlage zu verstehen.] (3.0) Unter "die Medien" wären zu verstehen (3.1) komplexe und je raumzeitlich und kulturell spezifische "Medienkonstellationen" auf verschiedenen Ebenen, sowohl im umfassenden Sinn ("die Medienkonstellation einer Kultur") als auch im partiellen und konkreten Sinn ("die Medienkonstellation ?PC/WWW'"), (3.2) wobei diese Medienkonstellationen in erster Linie interessieren als semiotische Systeme im umfassenden Sinn, die Zeichen, "Texte" und soziale "Botschaften", aber auch "Sender"-, "Vermittler"- und "Empfänger"-Positionen eher erzeugen/konstruieren als "verarbeiten", wobei die Faktoren dieses medialen Prozesses wiederum zu zerlegen sind (3.3) in die technische Apparaturen und Systeme, die als "Proto-Code" auch der Semantik bestimmte Grenzen ("Bandbreite des Kanals") setzen und im übrigen unweigerlich komplexe symbolisch/semiotische Bedeutungsaufladungen begünstigen und provozieren, (3.4) in die eigendynamischen sozialen Systeme, die sich um diese technischen Apparaturen auskristallisieren und ausdifferenzieren, die wiederum bestimmte Codes implizieren bzw. den Codes der medialen Zeichen und Botschaften bestimmte Restriktionen auferlegen und die zugleich funktionaler Bestandteil des übergreifenden sozialen (ökonomischen, politischen) Systems "der Gesellschaft" sind, (3.5) in die Ebene der "Mediensprachen", d.h. all der konkreten semantischen Codes, die sich um technische und soziale System herum auskristallisieren und ausdifferenzieren und wiederum auch in ihrer Funktion für den übergreifenden Code ("die Sprache") zu analysieren sind, und (3.6) in die Ebene der semantischen Medienräume bzw. der kulturellen "Medienwelten", die durch das Wechselspiel von technischen, sozialen und (im engeren Sinn) semiotisch-sprachlichen Systemen entstehen und die insbesondere den "Mediennutzern" bestimmte "Subjektstellen" zuweisen, von denen aus mediale Aussagen erst gemacht und "verstanden" werden können und die insbesondere auch den körperlich-konkreten Habitus (bzw. die "Hexis") der "Medienmenschen" prägt. ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.openoffice.de/pipermail/rohrpost/ Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/