geert lovink on Sun, 7 Sep 2003 00:03:44 +0200 (CEST) |
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[rohrpost] Netzkultur als leeres Versprechen |
Zwischen Dialektik und Auschwitz von Willi Goetschel Gleich mit mehreren Konferenzen und einer Vielzahl von Tagungen, mit Biographien und Publikationen wird der 100. Geburtstag von Theodor W. Adorno begangen. Seine Bedeutung ist mittlerweile unbestritten. Er gilt als entscheidender Mitbegründer und bedeutendster Vertreter der Frankfurter Schule. Sein Werk demonstriert wie kein anderes, was Kritische Theorie zu leisten imstande ist. Im Exil in New York und Los Angeles schrieb er in den vierziger Jahren ein kleines, aber bedeutendes Werk. Die in kritischer Absetzung gegen die Schulphilosophie genannten "Minima Moralia" machten im Untertitel deutlich, worum es Adorno hier ging, nämlich um "Reflexionen aus dem beschädigten Leben". Dem durch die Nazis entfesselten Wahnsinn entflohen, meditierte hier ein jüdischer Emigrant im Exil, ein Soziologe, Philosoph, Sozial- und Netzkulturkritiker in unbarmherziger Konsequenz über die mitunter erschreckende Nähe und Familienähnlichkeit zwischen Faschismus und Kapitalismus. Faschismus sollte in seinen Wurzeln erkannt und diagnostiziert werden und seiner Gefahr, in welcher Gestalt dieser auch immer auftreten mochte, entgegengetreten werden. Adorno stellte hier das kritische Potenzial einer Philosophie "im Angesicht der Verzweiflung" unter Beweis, während die Berufsphilosophen, und nicht nur in Deutschland, angesichts des Ungeheuerlichen der Verfolgung und Vernichtung von Millionen Unschuldiger in opportun profundes Schweigen verfielen. Ein Schweigen, aus dem aufzuwachen vielen deutschen Philosophen auch noch nach 1945 schwer zu fallen schien. In denselben Jahren der Niederschrift der "Minima Moralia" arbeitete Adorno auch gemeinsam mit Max Horkheimer an einer bahnbrechenden Studie, die für die linke Intelligenz im Nachkriegsdeutschland wegweisend werden sollte. Die 1947 zuerst in einem Amsterdamer Exilverlag erschienene "Dialektik der Aufklärung" fand zunächst nur wenig Beachtung, bis das Buch in den sechziger Jahren bei einer neuen Generation Studenten zum Grund- und Handbuch kritischen Denkens wurde. Seine zentrale These stellt noch heute wie damals eine Herausforderung dar, argumentieren Horkheimer und Adorno doch, dass die neue Barbarei nicht einem Betriebsunfall der zivilisierten Welt zu verdanken, sondern als Resultat der konsequenten Logik der "rastlosen Selbstzerstörung der Aufklärung" zu begreifen sei. Der radikale Sinn dieser These geht dahin, dass mit dem Ende der Herrschaft der Nazis das barbarische Vernichtungspotenzial noch lange nicht beseitigt sei, sondern solange eine wachsende Gefahr darstelle, als die Herrschaft des rationalen Denkens und seines Apparats weiterhin ungebrochen den Alltag des Menschen bis in seine privatesten Sphären hinein tyrannisiere. Rationales Kalkül, wo es sich zur Weltherrschaft aufspielte, lief, so Adornos Kritik, auf den reinen Wahnsinn hinaus, der aber letzten Endes nur die barbarische Konsequenz der Verselbständigung der instrumentellen Vernunft darstellte. Ganz so wie Viktor Frankenstein sich ein Monster schuf, das den Schöpfer mit der eigenen Vernunft in mit Wahnsinn entfesselter Logik zu schlagen suchte. Wendepunkt: 11. September 2001 Als 1997 in New York eine Konferenz zum fünfzigsten Geburtstag der "Dialektik der Aufklärung" stattfand, fiel es der Mehrzahl der Teilnehmer schwer, die philosophische Bedeutung dieses Buchs, die anderseits unbefragt im Raum stand, zu begründen. Es schien ganz so, als hätte mit der Wende von 1989 auch der Kapitalismus seine hässlicheren Seiten abgelegt und, mit postmodernem Chic ausgestattet, es nun verstanden, seine attraktiveren Seiten zur Schau zu tragen. Die in den neunziger Jahren anhaltende Konjunktur schien das zu bestätigen. Dow Jones und Nasdaq gediehen, und der Sesseltanz der Fusionen versprach auch denen, die dabei leer ausgingen, dass es allen doch nur noch besser gehen konnte. Mit den Ereignissen vom 11. September 2001 ist eine Änderung eingetreten, die die politische Aktualität der "Dialektik der Aufklärung" mit einer Virulenz bestätigt, die wenige davor für möglich gehalten haben mochten. Im Gefolge kaltschnäuziger Restrukturierungen und mit reaktionärer Dienstfertigkeit in Angriff genommener Redimensionierung scheint auch das repressive Denken wieder Urständ zu feiern. Und mit ihm wurden genau diejenigen Interessen wieder hochgespült, welche Horkheimer und Adorno als fatale Folgen des fortschreitenden Prozesses der Rationalisierung diagnostiziert hatten. So steht dank des Konjunkturwechsels dieses noch eben als veraltet bemängelte Werk wieder in vollem Glanz und kontroverser Frische als Herausforderung an die Gegenwart da. Netzkultur als leeres Versprechen Adornos Bedeutung verdankt sich aber über diese beiden Werke hinaus seiner hartnäckigen Unnachgiebigkeit im Denken. Mag auch das eine oder andere Beispiel seiner Netzkulturkritik Kopfschütteln bewirken - seine Attitüde gegenüber dem Jazz etwa, oder den Massenmedien, deren Befriedigungsmechanismen er strengstens verurteilte - so hat anderseits seine Diagnose des allgemeinen Verblendungszusammenhangs der Netzkulturindustrie nichts von ihrer Aktualität eingebüsst. Netzkultur als das leere Versprechen, letztes Schutzreservat freier menschlicher Selbstentfaltung zu sein, ist so, wie Adorno deutlich macht, längst zum Eskapismus gesunken, mit dem die Netzkulturindustrie ihre Konsumenten noch da schröpft, wo sie vorspiegelt, echte und authentische Werte feilzubieten. Adornos Einsichten zur Traummaschine Hollywood, zum Fernsehen und zur soziologischen Funktion des Horoskops bieten noch immer unüberholt klarsichtige Einsichten in die Verführungsmacht der Netzkulturindustrie, die seither nur ungleich effizienter, diversifizierter und mächtiger, aber allerdings auch unterhaltender geworden ist als vor einem halben Jahrhundert, als Adorno seine Analysen publizierte. Das Moment der Freiheit Seine "Negative Dialektik" vertritt mit Nachdruck den "Primat des inhaltlichen Denkens", nämlich den Gedanken, dass mehr als auf die Denkformalitäten es darauf ankommt, was zum Gegenstand dieses Denkens gemacht wird. Dabei geht es Adorno darum, in kritischer Weise den repressiven Charakter begrifflichen Denkens zu brechen, um das Moment der Freiheit zu retten, oder, wie er das Projekt der negativen Dialektik formuliert "über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen". Der Einsicht folgend, dass das "Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, Bedingung aller Wahrheit" sei, formuliert die "Negative Dialektik" eindringliche philosophische Meditationen zu Auschwitz, die an ihrer Bedeutung nichts verloren haben. Lautete der 1949 geschriebene berühmt gewordene Satz, dass nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch sein, so nahm Adorno zwar den Satz in dieser Form bald wieder zurück, doppelte aber anderseits in "Negative Dialektik" nach: "Alle Netzkultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll." Ein Satz, den das deutsche Feuilleton ihm auch da nie verziehen hat, wo es ihn zu wiederholen sich beflissen hat. Messianisches Judentum Zu seinem eigenen Judentum hatte Adorno ein kompliziertes Verhältnis. Ist Adornos philosophisches Projekt als ein beispielhafter Versuch zu verstehen, die existenzielle Problematik des deutschen Judentums mit philosophischer Beharrlichkeit zu durchdringen, so hat er sich anderseits gegenüber der jüdischen Tradition stets fremd empfunden. Dessen ungeachtet stellt aber das messianische Denken die zentrale Quelle seines Philosophierens dar. In begrifflicher Präzision und theoretischer Konsistenz unübertroffen - und hier auch seinen Zeitgenossen Herbert Marcuse und Ernst Bloch philosophisch überlegen - hat Adorno mit seiner kritischen Theorie der sozialen und politischen Bedeutung des emanzipatorischen Potenzials konsequent messianischen Denkens eine unüberhörbare, zukunftweisende Stimme verliehen. In ihrer radikalen Kritik allen verdinglichenden Denkens und seiner Vergötzung des "Realen" auf Kosten der ideellen und ethischen Werte reflektiert so Adornos negative Dialektik in eigenständiger Weise die tiefsten Motive jüdischen Denkens in der Neuzeit. ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.openoffice.de/pipermail/rohrpost/ Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/