Florian Cramer on Wed, 8 Oct 2003 17:55:59 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Thomas Ruff, Nudes


[Seit ihrem Erscheinen wollte ich etwas über Ruffs "Nudes" schreiben,
habe aber keine Zeit für einen abgeschlossene Rezension gefunden. Hier
ein paar Notizen und Ideen. -F]


Interessanterweise hat dieser Bildband bisher noch keine Resonanz in
einschlägigen Netzkunst-Foren und -Publikationen gefunden, wie etwa den
"Rhizome Net.art News" (obwohl es, zugegebenermaßen,
Netzkunst-Kritikerinnen wie Josephine Bosma gibt, die ihn kennen, aber
nicht gut finden und deshalb auch nicht besprechen wollen).  Er enthält
insgesamt 149 Bildreproduktionen von Porno-Fotos, die Ruff im Internet
gefunden und digital bearbeitet hat, sowie eine Kurzgeschichte von
Michel Houellebecq, die quasi als Vorwort abgedruckt ist. Houellebecq
erzählt im melancholischen Ton einer sexuellen Real-Dystopie vom
organisierten heterosexuellen Swinger-Milieu und gibt damit die Lesart
der Bilder vor, als Zeugnisse erregter Langeweile und erotischen Ennuis. 

Das Bildmaterial sind unoriginelle kommerzielle Mainstream-Pornobilder;
es zeigt hauptsächlich, aber nicht nur, Frauen und heterosexuelle
Szenen, eine Reihe unfreiwillig klassisch anmutender Aktbilder,
Gruppensex, häufig auch Bondage. Durchweg ist die Farbtiefe reduziert
und das Bild mit leichten Farbstichen versehen (so, wie auch die
künstlerisch geadelte Sex-Fotographie z.B. von Richard Kern und Laurence
Jaugey-Paget), vor allem aber sind die Bilder durch
Photoshop-Weichzeichner-Filter verfremdet; kein klassischer
Softporno-Weichzeichner, sondern ein "Motion Blur" (eventuell auch
"Gaussian Blur"), der den Bildern in Verbindung mit den ausgebleichten
Farben impressionistische Qualität verleiht und die Betrachter zwingt,
das Bild erst im Kopf kreieren. Die Verfremdung ist nicht originell,
sondern z.B. von den unscharf-fotorealistischen Gemälden Gerhard
Richters (von denen einige auch erotische bzw. pornographische Motive
hatten) aus den 1970er Jahren bekannt. 

Handelt es sich also um eine eher platte Reflexion von Massenmedien, 
ihren Bildern und ihrem Konsum, nur daß an die Stelle der Illustrierten
der 70er Jahre das Internet - bzw. vermutlich das World Wide Web und
peer-to-peer-Netze - als Bildlieferant getreten ist?  Schließlich hätte
man auch schon vor zwanzig oder dreißig Jahren Richters Bilder z.B. mit
Texten von Pauline Réage zu einem Buch kombinieren können.

Eine Reihe von Differenzen erscheinen mir trotzdem interessant:

- Die Fotos sind nicht, wie bei Richter, von optochemischen Bildträgern
  in gerasterten Zeitungsdruck in Malerei übersetzt, sondern zirkulieren
  allein in digitaler Form und werden mit digitalen Software-Werkzeugen
  manipuliert. (Auch das Buch ist Output eines digitalen
  Produktionsprozesses, dessen Input Text- und Bilddateien sind und
  dessen Prozessor wahrscheinlich Quark XPress heißt.) Daß die Bilder
  quasi technisch differenzlos bleiben, wird allein dadurch verhindert,
  daß ihr Zielmedium Buch und Serien-Objekt ("Die Auflage beträgt in der
  Regel 5 Exemplare und 2 Artist's Proofs", S. 150) sind, nicht - wie
  in anderer Netzkunst - Dateien bzw. digitale Datenströme.

- Die Korrespondenz von Houellebecqs Erzählung und Ruffs Bildern stellt
  sich durch eine Raum-Zeit-Logik der Obsession dar. Wie schon in den
  Erzählungen Sades, materialisiert die sexuelle Obsession als
  ritualisierte Handlung auf einer linearen Zeitachse, die aber
  jederzeit als Tableau, als "freeze frame", fixierbar ist - so
  Houellebecqs tagebuchartiger Bericht vom Swinger-Camp und eben,
  implizit, auch Ruffs Bilder, insofern sie Zeugnis einer obsessiven
  Sammelleidenschaft sind. Der Zugriff folgt also, um Lev Manovichs
  These von der "Datenbank als symbolischer Form" in zeitgenössischer 
  Kunst zu benutzen, der Logik einer Datenbankrecherche, und 
  manifestiert sich wiederum in der Betonung von Parallelen und 
  systematischer Kombinatorik in den Bildern: Aktbilder einzelner Frauen, 
  lesbische Szenen, Gruppensex, Bondageszenen usw..  

- Die Übersetzung von "Nichtkunst" in "Kunst" geschieht durch softwaretechnische
  Manipulation. Die Bildbearbeitungs-Operationen, denen die digitalen
  Fotos unterzogen werden, sind dabei weitaus radikaler automatisierbar
  als die von Gerhard Richter. Mit einem Photoshop- oder The Gimp-Skript
  "porno2ruff", das Farbtiefe reduziert und einen "Motion Blur"-Filter
  appliziert, ließe sich Ruffs Arbeitsweise generativ vervielfältigen,
  also ein Schritt von der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks
  hin zur technischen Reproduzierbarkeit des Kunstschaffens machen.

- Dieser minimale softwaretechnische Eingriff stellt aber erst die
  Differenz von Pornographie/Nichtkunst und Kunst her, und zwar an
  Stelle dessen, was Arthur C. Danto die "transfiguration of the
  commonplace" in der Kunst nennt, die Alltagsgegenstände
  (Flaschentrockner, Waschmittelkartons) durch Entrückung in
  Ausstellungsräume zu Kunst macht. - Allerdings ist Ruff ist nicht
  radikal genug, diesen Weg bis ans Ende zu gehen, wenn er nach wie 
  vor den klassischen Kunst-Sammlermarkt mit artifiziell verknappten 
  Objekten beliefert. Der Sammler wird so aber zum Gegenspieler des
  Pornobild-Sammlers Ruff (und vielleicht ist die Zentralität des
  Sammelns und Archivierens in der zeitgenössischen Kunst, der sich 
  auch im Boom der Kunstform der Installation zeigt, eben Ausdruck
  eines seinerseits auf den Sammlermarkt zugespitzten 
  zeitgenössischen Kunstbetriebs).

  Vielleicht ist das Unerfreuliche an Ruffs Band, daß er mit dem
  Unscharf-Machen seinerseits die abgegriffenste Form künstlerischer
  Stilisierung (bzw. Manier) wählt, an der sich eine 
  Unterscheidung von "künstlerisch" und "nichtkünstlerisch"
  oberflächlich festmachen kann. (Was wäre, hätte Ruff statt des
  "motion blur" einen Schärfungs-Filter eingesetzt?)

- Ruff bedient sich also des Internets als Material-Datenbank und des
  Computers als Prozessor, um ein letztlich nichtdigitales Werk zu
  erzeugen. Trotzdem sind die "Nudes" vielleicht die erste prominente
  künstlerische Arbeit, an der sich feststellen läßt, daß die
  Unterscheidung von "Kunst" und "Netzkunst" sich historisch überholt
  hat, denn nicht nur bedient sich hier Kunst unabhängig von ihrer
  medialen Selbstdefinition wie selbstverständlich des Internets;
  sondern auch die Logik des Computers mit seinen Softwarealgorithmen
  sowie des Netzes mit seinem Datenbankzugriff schreiben sich ins Werk
  so massiv ein, daß es selbstredend auch eine künstlerische Reflexion 
  von Netz- und Computerkultur ist.

-F
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